Wirtschaftsforscher Sinn warnt vor übertriebenen Hoffnungen
Wirtschaftsforscher Hans-Werner Sinn glaubt trotz guter Konjunkturaussichten nicht an eine grundlegende Trendwende in Deutschland. "Konjunktur ist nicht Wachstum, das bringen viele Leute leider durcheinander", sagte der Präsident des Münchner Wirtschaftsforschungsinstituts ifo. Deutschland habe in den vergangenen zehn Jahren das langsamste Wachstum in Europa gehabt, ein konjunktureller Aufschwung könne den Trend nur schwer umkehren.
Jürgen Liminski: Alan Greenspan, der Herr des Geldes und der Zinsen, mithin auch der Börsenstimmung, tritt ab. Kommen jetzt unsichere Zeiten? Gleichzeitig übersteigen Arbeitslosenzahlen in Deutschland wieder die Fünf-Millionen-Marke. Wie kommen wir davon runter? Und es gibt eine Rentendebatte, vielleicht demnächst auch Streiks. Setzt Deutschland seine wirtschaftliche Talfahrt fort? Fragen, auf die wir nun Antworten erwarten von Professor Hans-Werner Sinn, Präsident des Wirtschaftsforschungsinstituts ifo in München. Und er ist auch Präsident des CES, des Zentrums für Wirtschaftsstudien. Zunächst einmal guten Morgen, Herr Sinn!
Hans-Werner Sinn: Guten Morgen!
Liminski: Herr Sinn, Sie sind sozusagen der Herr des Klimas, jedenfalls des Geschäftsklimas in Deutschland. Schlagen die fünf Millionen auf das Gemüt der Unternehmer?
Sinn: Nein. Das hatte man ja erwartet, dass es noch einmal über fünf Millionen sein würden. Es ist sogar etwas weniger an Arbeitslosen zu verzeichnen, als wir noch im Dezember befürchtet haben. Insofern ist das nicht solch eine alarmierende Nachricht. Ich meine, insgesamt ist es schlecht in Deutschland mit der Arbeitslosigkeit. Aber es ist weniger schlecht als vor einem Jahr. Wir haben einen Aufschwung. Das zeigt der ifo-Klimaindex ganz deutlich. Wir müssen eigentlich in das Jahr 2000 zurückgehen, um eine ähnlich günstige konjunkturelle Situation zu haben wie jetzt. Und das ist schon einmal ganz gut. Das wird sich auch auf dem Arbeitsmarkt zeigen. Schon seit dem Sommer letzten Jahres geht auch die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung wieder hoch. Die war ja jahrelang zurückgegangen. Also im Großen und Ganzen sind die Zeichen jetzt wieder positiv.
Liminski: Aber ist die Stimmung nicht doch etwas besser als die wirkliche Lage? Die Einzelhandelszahlen sind miserabel und jetzt die Arbeitslosen. Ein Kommentator sprach neulich von einem surrealen Hochgefühl. Machen wir uns nicht doch ein bisschen etwas vor?
Sinn: Ja, das ist immer die Gefahr. Wir hatten im Jahre 2002 solch eine Erwartungsblase, wo die Erwartungen, die die von uns befragten Unternehmen da geäußert haben, nach oben gingen und die Lage aber nicht folgte. Aber jetzt ist es anders. Wir fragen ja auch nach der Lage, und die Lagebeurteilungen sind ebenfalls deutlich besser geworden. Nein, nein, das ist keine Einbildung, sondern schon seit dem letzten Sommer im Gange. Die Frage ist, wie weit er trägt. Und vor allem ist die Frage, wie weit ist es Konjunktur, wie weit ist es mehr. Also ich glaube, es ist nur die Konjunktur, das heißt die Schlängelei um den Trend. Und der Trend selber ist in Deutschland halt nicht so toll. Wir sind ja nun mal in den letzten zehn Jahren das am langsamsten wachsende Land Europas gewesen. Und ich befürchte, dass sich das deswegen nicht ändert, bloß weil wir jetzt einen konjunkturellen Aufschwung kriegen. Konjunktur ist nicht Wachstum, das bringen viele Leute leider durcheinander.
Liminski: Mehr als fünf Millionen, wie kommen wir davon runter, Herr Sinn?
Sinn: Der Arbeitsmarkt ist also losgelöst von der sonstigen wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland. Die Gesellschaft wird zweigeteilt. Einerseits sind da die Unternehmen, die sehr flexibel sind, innovativ, aber sie machen Gewinne, vor allem deswegen auch, weil sie die Arbeiter sukzessive durch Maschinen ersetzen oder neuerdings die deutschen Arbeiter durch polnische und tschechische und chinesische. Das ist so ein bisschen das Problem. Und die Arbeiter werden nicht so richtig mitgezogen mit diesem Wirtschaftsboom. Sie sind es nämlich, die unter dem internationalen Konkurrenzdruck zu leiden haben. Diese Niedriglöhne aus den ex-kommunistischen Ländern machen Deutschland massiv zu schaffen. Und da müssen wir einen Weg finden. Ich glaube der Weg, die Niedriglöhne, die wir in Deutschland haben, die niedrigsten Löhne zu verteidigen, ist kein Erfolg versprechender Weg. Wir haben bislang die Leute dann, wenn sie in der Wirtschaft keine konkurrenzfähigen Jobs mehr fanden, in den Sozialstaat wandern lassen. Und es wird teurer und teurer und ist letztlich finanziell nicht mehr beherrschbar.
Wir müssen einen Weg finden, sie weiter zu beschäftigen, sei es auch zu niedrigeren Löhnen. Und dann muss der Staat aber hinzu zahlen. Er muss diesen Menschen helfen. Wir brauchen ein Kombizuschuss-Lohnsystem, wo der Staat einen Teil des Lohnes hinzu schießt zu dem Lohn, den der Unternehmer zahlt. Nur so kommen wir hin. Das kostet natürlich Geld. Aber was wir heute haben, kostet ja noch viel mehr Geld. Wir zahlen 100 Milliarden jedes Jahr für die Arbeitslosen und die Frührentner. Das kann ja so auch nicht bleiben.
Liminski: Sie reden einem Kombilohnsystem das Wort. Ist das mit der großen Koalition zu machen? Wird da nicht erst ein Mindestlohn einzuführen sein? Den gibt es auch schon in fast allen Nachbarstaaten.
Sinn: Wenn man einen Mindestlohn einführt, dann braucht man den Kombilohn nicht einzuführen. Das ist ja eigentlich albern. Denn die Wirkung auf den Arbeitsmarkt geht über eine stärkere Ausspreizung der Löhne nach unten. Deutschland hat, wie der Internationale Währungsfonds in einer Studie letztes Jahr festgestellt hat, eine unheimlich stark zusammengestauchte Lohnstruktur. Die Unterschiede zwischen den Hochlohn- und Niedriglohnbeziehern sind hier viel kleiner als in anderen Ländern. Und das bedeutet, dass eben sehr viel Arbeitslosigkeit im Bereich der Geringqualifizierten entstanden ist. Da sind wir Weltmeister. Es gibt kein anderes Land, wo die Arbeitslosenquote höher ist. Wir müssen also hier nach unten die Löhne wegspreizen. Und ein Mindestlohn würde genau das verhindern. Wir müssen aber - und das kann man gar nicht genug betonen - bei denen, die dann durch diese Lohnspreizung nach unten verlieren, vom Staat aus helfen durch Lohnzuschüsse. Diese Lohnzuschussidee ist für einen Sozialstaat essenziell. Der alte Weg, dass man den Menschen hilft unter der Bedingung, dass sie selber nicht arbeiten, über ein Lohnersatzsystem, der ist zum Scheitern verurteilt. Wir sind praktisch schon am historischen Ende des alten Sozialstaates angekommen.
Liminski: Herr Sinn, wir haben eine Rentendebatte, genauer eine Debatte über das Renteneintrittsalter, was natürlich auch mit dem Arbeitsmarkt zu tun hat. Jedes zweite Unternehmen in Deutschland hat keine Arbeitnehmer über 50 mehr. Ist es realistisch, die Rente mit 67 zu fordern, wenn die älteren Arbeitnehmer kaum eine Chance auf einen Arbeitsplatz haben?
Sinn: Naja, dass sie kaum eine Chance haben, liegt halt daran, dass das Lohnniveau sich fortentwickelt von der Produktivität. Wer 65 ist, kann nicht mehr so powern wie ein 40-Jähriger. Er verdient aber im Zweifel noch mehr. Und da haben wir ein Problem. Deswegen entlassen die Firmen gerne die älteren Arbeitnehmer und stellen stattdessen jüngere ein. Wir sind nun mal an die Regeln der Marktwirtschaft gebunden, das heißt der Lohn kann immer nur so hoch sein wie die Produktivität. Und der Lohn hat zugleich aber die Aufgabe, ein sozial akzeptables Einkommen zu verschaffen. Und das beißt sich. Wie können wir es lösen? Auch hier über ein Zuschusssystem. Meine Idee wäre, dass man sagt, wer nun schon entlassen wird - was ich nicht gut finde - unter den Älteren, der soll die Möglichkeit haben, neben seiner Frührente doch auch in einem anderen Job weiterzuarbeiten, wo er dann vielleicht nicht mehr gar so viel verdient, wie vorher, wo aber wegen des niedrigen Lohnes, den er da bezieht, für ihn ein Job entsteht, wo die Unternehmen dann Interesse haben, solche Menschen einzustellen. Und ich glaube, das geht.
Man muss sich lösen von der Idee, dass man entweder die Rente bezieht oder ein Arbeitseinkommen. Warum bezieht man nicht beides für Leute, die eben unter herrschenden Bedingungen von den Firmen nicht mehr gehalten werden. Das wäre das bessere System, dann würden die Firmen glücklich sein, weil sie billige Arbeitskräfte haben, da lohnt es sich, sie einzustellen, Jobs zur Verfügung zu stellen. Und die Betroffenen wären auch glücklich, weil sie ja zwei Einkommen haben. Sie haben ein eigenes Lohneinkommen, wenn es auch ein kleines ist, zu ihrer Frührente hinzu.
Liminski: Setzt das nicht ein bisschen mehr Flexibilität auch der Wirtschaft voraus? Denn diese Nebenjobs wären ja wahrscheinlich in ihrer Mehrzahl auch Teilzeitjobs.
Sinn: Ja, aber ich glaube, hier liegt es nicht an der Flexibilität der Wirtschaft, sondern an der Flexibilität des Gesetzgebers. Es ist eben strikt verboten. Man darf, wenn man die Frührente bekommt, nicht gleichzeitig weiterarbeiten.
Liminski: Stichwort Familienpolitik, Herr Sinn, die segelt ja im Moment unter der Flagge des Arbeitsmarktes. Jedenfalls behaupten zuständige Politiker und Politikerinnen, mit den Steuervorzügen bei der Betreuung würden viele Arbeitsplätze geschaffen. Sicher gibt es einen Betreuungsmarkt. Aber kann er durch die steuerlichen Anreize so stark belebt werden?
Sinn: Also die Absetzbarkeit von Ausgaben für die Kindererziehung würde sicherlich die Nachfrage nach solchen erzieherischen Kräften vergrößern. Also, da ist schon auch auf dem Arbeitsmarkt ein gewisser Effekt da. Nur die Zielrichtung ist ja eine andere. Man will den Familien helfen und man will insbesondere die Entscheidung für das Kinderkriegen und für die Vergrößerung der Familie erleichtern. Und insofern finde ich solche Maßnahmen prinzipiell richtig und gut, völlig egal, wie der Arbeitsmarkt hier im Einzelnen reagiert.
Liminski: Gestern war Alan Greenspans letzter Arbeitstag. Eine Ära ging zu Ende. Sind einzelne Personen wirklich so wichtig für die Börse und für die Wirtschaft?
Sinn: Naja, Greenspan hat schon einen guten Job gemacht. Der war immer sehr klug und hat insbesondere jetzt in den letzten Jahren, finde ich, die große Flaute der Weltwirtschaft außerordentlich gut gemeistert. Er war ja der erste, der mit seinen Zinsen heruntergegangen ist - und zwar dramatisch - und hat dadurch das schlimmste verhindert und den Amerikanern auch früher zu einem Boom verholfen als anderen. Die amerikanische Wirtschaft boomte ja schon vor zwei Jahren, und bei uns zeichnet sich jetzt erst ein gewisser Aufschwung ab: also Lob für Alan Greenspan. Aber ich glaube, dass der Nachfolger Ben Bernanke, Professor an der Universität Princeton, den ich auch kenne und sehr schätze, dass das eine ausgezeichnete Lösung ist für diesen Job.
Liminski: Eine Prognosefrage in diesem Zusammenhang: Gehen auch bei uns die Zinsen demnächst hoch?
Sinn: Ja, das würde ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erwarten.
Liminski: Das war Professor Hans-Werner Sinn, Präsident des ifo Instituts in München. Besten Dank für das Gespräch, Herr Sinn.
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