Ifo-Chef Hans-Werner Sinn: Europäische Zentralbank sollte Werbeaktion in Osteuropa starten
Seine Erklärung der Euro-Schwäche stößt auf Widerstand. Doch Hans-Werner Sinn, Chef des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, akzeptiert die Kritik nicht. Um den stockenden Aufholprozess anzukurbeln, lautet sein Rezept: Ostdeutsche Firmen sollten ihren Beschäftigten Lohnzurückhaltung gegen Mitbeteiligung abkaufen. SZ sprach mit dem renommierten Finanzwissenschaftler, der einen Lehrstuhl an der Ludwig-Maximilian-Universität hat, über Euro, Solidarpakt und Aufbau Ost.
Was ist die Erklärung für die schwächliche Entwicklung des Euro. Anfangs lag der Kurs bei 1,18 Dollar, jetzt krebst er unter 90 Cent herum?
Sicherlich spielt eine Rolle, dass viele ausländische Geldhalter, die die D-Mark bislang als Transaktionswährung hielten, verunsichert sind, weil sie nicht wissen, zu welchen Konditionen und von wem die D-Mark in Euro umgetauscht wird. In Osteuropa liegen mindestens 25 Prozent der deutschen Bargeldmenge. Viele kleine Leute sind sich nicht darüber im klaren, dass dieses Geld ohne jeden Verlust in Euro umgetauscht wird, dass in Wahrheit überhaupt kein Risiko besteht. Die subjektive Unsicherheit verleitet sie, Dollars nachzufragen. Dadurch fällt der D-Mark-Kurs.
Gerade diese Erklärung stößt auf Widerstand. Ihre Kritiker sagen, die Bestände in Osteuropa seien zu gering, um einen Effekt auf den Euro zu haben?
Ich weiß. Aber die Bestände in Osteuropa liegen zwischen 60 und 90 Milliarden D-Mark. Die EZB hat für ihre Interventionen jetzt zum Beispiel 2,5 Milliarden D-Mark eingesetzt und glaubte, damit den Kurs zu beeinflussen. Der Spekulant Soros, der 1992 das ganze europäische Währungssystem zum Kippen brachte, hatte auch nur wenige Milliarden D-Mark eingesetzt. Es sind häufig kleine Beträge, die schon ausreichen, um bestimmte Kurstendenzen auf den Devisenmärkten herbeizuführen. Ich verstehe nicht, warum diese Mengen in Osteuropa unbedeutend sein sollen. Das ist kein nachvollziehbares Argument.
Wie kann der Euro-Kurs stabilisiert werden?
Erstens könnte er sich selbst stabilisieren, weil die Konjunktur in Amerika nachlässt. Eine konjunkturelle Beruhigung in Amerika führt dort zu einem Rückgang der kurzfristigen Zinsen, zu einer Verringerung der Nachfrage nach Dollar-Liquidität und somit zu einem Anstieg des Euro. Erste Anzeichen für eine Abschwächung der Konjunktur sind ja schon in Sicht. Zweitens müsste die EZB aktiv am Devisenmarkt intervenieren, um den Euro bzw. die D-Mark zu stützen. Drittens müsste die EZB eine Werbe- und Aufklärungsaktion in Osteuropa starten, um den Leuten klar zu machen, wann und zu welchen Bedingungen die D-Mark gegen Euro umgetauscht wird.
Anderes Thema - Aufbau Ost. Wie steht Sachsen im Vergleich zu den anderen neuen Ländern da?
Sachsen hat die Nase vorn, weil der Freistaat zumindest im staatlichen Bereich außerordentlich solide ist. Die gewählte Politik der Zurückhaltung war richtig, weil sie Sachsen die niedrigste Schuldenquote aller neuen Länder gebracht hat. Das werden die Investoren, die Angst vor hohen Steuern haben, zu schätzen wissen. Auch ist es der sächsischen Regierung gelungen, durch geschickte Industriepolitik Standorte zu schaffen, die als Kristallisationszentren für neue Industrien dienen können. Wenn jetzt eine Verringerung der Lohnsteigerung akzeptiert wird, dann können diese Zentren wachsen. Sonst wohl nicht. Auch die New Economy, wo bislang nicht einmal 2% der Arbeitskräfte beschäftigt sind, wird nur dann in der Lage sein, die ersehnten Arbeitsplätze zu schaffen, wenn die Kostenbelastung der Unternehmen dem Vergleich mit anderen Regionen standhält.
Und die berühmten Leuchttürme...?
Ja, sicher. Der sächsischen Regierung ist es gelungen, durch geschickte Industriepolitik Standorte zu schaffen, die als Kristallisationszentren für neue Industrien dienen können. Wenn jetzt eine Verringerung der Lohnsteigerung akzeptiert wird, dann können diese Zentren wachsen. Sonst wohl nicht. Auch die New Economy, wo bislang nicht einmal zwei Prozent der Arbeitskräfte beschäftigt sind, wird nur dann in der Lage sein, die ersehnten Arbeitsplätze zu schaffen, wenn die Kostenbelastung der Unternehmen dem Vergleich mit anderen Regionen standhält.
Sie plädieren für Lohnzurückhaltung im Osten.
Ich plädiere dafür, die Lohnzurückhaltung durch eine Mitbeteiligung an den Unternehmen zu kompensieren. Die Unternehmen können den existierenden Belegschaften Lohnsenkungen abkaufen, indem sie Beteiligungsrechte abgeben. Wenn man zudem zehn Jahre langbei den Lohnsteigerungen um ein Prozent unter dem Produktivitätszuwachs bleibt, dann hat man zehn Prozent Lohnzurückhaltung akkumuliert, und das heißz mindestens zehn Prozent mehr Arbeitsplätze.
Bescheiden sollen die Ostdeutschen auch beim Solidarpakt II sein. Zu Recht?
Der Solidarpakt muss fortgesetzt werden, weil es gar nicht möglich ist, ohne Finanzspritzen aus dem Westen auszukommen. Die über den Solidarpakt noch verfügbaren Gelder sind für den Aufbau einer leistungsfähigen Infrastruktur unerlässlich. Die Infrastrukturlücke der neuen Länder liegt immer noch bei mehreren hundert Millionen Mark. Die neuen Bundesländer haben ein Recht darauf, dass sie mit der gleichen Infrastruktur ausgestattet werden wie die alten.
Kritiker behaupten, im Osten wurde nach dem Prinzip der Gießkanne gefördert. Eine Subventionsmentalität hätte sich entwickelt. Können sie die erkennen?
Ja, natürlich. Das gesamte Sozialsystem wird auf diese Weise finanziert. Jene, die die Gelder bekommen, gewöhnen sich daran. Wennich einen großen Sozialsektor aufbaue, dann ist es doch klar, dass sich die Menschen in diesem Sektor aufhalten, statt ihr Eigentum in der rauen Welt der Marktwirtschaft selbst zu verdienen. Auch viele Unternehmen tun sich schwer, vom Tropf loszukommen.
Wo steht Ostdeutschland 2010?
Die neuen Bundesländer stehen derzeit, gemessen am Bruttoinlandsprodukt je Erwerbsfähigem, bei etwa 57 Prozent der alten Bundesländer. Wir lagen 1996 schon bei 59 Prozent, sind dann abgerutscht. Unterstellen wir einmal, dass das relative Sozialprodukt von nun an genauso schnell ansteigt, wie es in den letzten vier Jahren abfiel, dann sind wir in vier Jahren wieder bei 59% und in zehn Jahren bei 62 Prozent. Sind wir optimistischer, dass die Reise nun viel schneller geht, so erreichen wir vielleicht sogar 70 Prozent.
Dann ist die Angleichung von Ost an West eine Illusion?
Es kommt darauf an, was Sie mit Angleichung meinen. Die Lebensverhältnisse haben sich weitgehend angeglichen. Die Haushaltseinkommen liegen real bei gut 90 Prozent des Westens, und die Renten pro Rentenbezieher sind deutlich höher als im Westen. Die Wirtschaftskraft wird sich dagegen sehr, sehr langsam angleichen. Und wenn man es falsch macht, dann wird sie sich überhaupt nicht angleichen.
Das Gespräch führte Nora Miethke.
Wiederveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Sächsischen Zeitung.