Wir sind auf der falschen Schiene

Der Ökonom Hans-Werner Sinn über unzuverlässige Konjunkturprognosen, die Ursachen der Rezession und Kanzler Schröders Politik der ruhigen Hand
Spiegel 49/2001, 03.12.2001, S. 102

SPIEGEL-GESPRÄCH

Der Ökonom Hans-Werner Sinn über unzuverlässige Konjunkturprognosen, die Ursachen der Rezession und Kanzler Schröders Politik der ruhigen Hand

Hans-Werner Sinn
gehört zu den renommiertesten Ökonomen Deutschlands. Der 53-jährige Volkswirt an der Universität München sorgte erstmals für größeres Aufsehen, als er bereits 1991 im Buch" Kaltstart" auf wirtschaftspolitische Fehler der deutschen Vereinigung aufmerksam machte. Seit knapp drei Jahren leitet Sinn das Ifo-Institut, das zu den sechs führenden Wirtschaftsforschungseinrichtungen in Deutschland gehört. Bekannt ist das Ifo-Institut vor allem für seinen Geschäftsklima-Index, der monatlich durch Befragung von 7000 Unternehmen erhoben wird und der als Konjunkturbarometer große Beachtung findet. Viermal im Jahr befragt das Institut zudem rund 800 Experten in aller Welt nach ihrer Einschätzung des Wirtschaftsklimas; gerade wurde dieser "Economic Survey Intemational" (ESI) wieder abgeschlossen. Ergebnis: Die Stimmung ist so schlecht wie seit 20 Jahren nicht mehr.

SPIEGEL: Herr Professor Sinn, vor einem Jahr rechneten die Wirtschaftsforscher für 2001 mit einem soliden Wachstum von 2,5 bis über 3 Prozent. Jetzt steckt Deutschland in einer Wirtschaftskrise. Haben die Ökonomen versagt?

Sinn: Wir stecken wahrscheinlich sogar in einer Rezession, denn das Wachstum ist wohl auch in diesem Quartal negativ. Die Entwicklung hat in der Tat in einer Weise an Dramatik gewonnen, die wir im letzten Jahr nicht vorhergesehen haben. Allerdings ging unser Ifo-Klima-Index, der Lage und Erwartungen der Wirtschaft misst, bereits seit Mai vergangenen Jahres kontinuierlich nach unten, so dass wir die ersten Konjunkturwarnungen ab dem Herbst des Jahres 2000 veröffentlicht haben.

Umso unverständlicher, dass Sie dann noch im Herbst vergangenen Jahres ein Wachstum von 2,7 Prozent prognostizierten.

Das war bereits deutlich weniger als für das Jahr 2000, und mehr Absenkung war damals nicht sicher. Warnungen über die Risiken der Schätzung wurden auch damals ausgesprochen. Das Ifo-Institut hat im Übrigen als erstes Institut im Juni 2001 seine Prognose deutlich auf 1,2 Prozent reduziert - und wurde von der Politik prompt als Miesmacher beschimpft.

Warum schaffen es die Ökonomen nicht, wirtschaftliche Entwicklungen präziser vorherzusehen?

Wir machen ja keine unbedingten Prognosen - auch wenn wir in der Öffentlichkeit gern so interpretiert werden -, sondern wir treffen Wenn-dann-Aussagen: Wenn das Wachstum der Weltwirtschaft, der Rohölpreis, der Aktienkurs und anderes mehr bestimmte für plausibel gehaltene Werte annehmen, dann reagiert unsere Wirtschaft in einer bestimmten Weise, und es ergibt sich eine Konjunkturprognose.

Nach dem Motto: Wenn morgen wieder die Sonne scheint, bleibt es warm.

Nein: Unter der Annahme, dass das Azoren-Hoch seine Bewegung in der üblichen Weise nach Europa fortsetzt und da Island-Tief so schwach bleibt wie heute wird morgen der Regen vertrieben, und die Sonne wird scheinen. Wetterprognosen haben analytisch exakt dasselbe Problem wie eine ökonomische Prognose, nur dass sie schon über eine Woche hinweg äußerst ungenau werden. Wir machen Prognosen über ein Jahr hinweg. Es gibt Wetterlagen, in denen sich die Windrichtungen sehr schnell ändern können. Das ist nicht prognostizierbar. Wir können ein Stück weit in die Zukunft schauen, aber je weiter wir schauen und je turbulenter die Zeiten sind, desto unklarer wird das Bild.

Was ist denn passiert, dass die Wirtschaft so unerwartet und abrupt abstürzte?

Das Entscheidende war der Einbruch an den Börsen und der Ölpreisanstieg im Frühjahr dieses Jahres. Beides hat die Konsumenten ärmer gemacht und das Investitionsklima verschlechtert. Das hat die amerikanische Konjunktur sehr stark in Mitleidenschaft gezogen. Die Weltkonjunktur ist über Amerika eingebrochen, und Europa zog nach.

Ist es also die wachsende Bedeutung der zunehmend spekulativen Finanzmärkte, die Konjunkturprognosen immer schwieriger macht?

In diesem Fall war es sicherlich so. In Deutschland waren die Aktien nach Gründung des Neuen Marktes sogar noch stärker gestiegen als in den USA - umso dramatischer war der Einbruch danach. Zusammen mit dem erheblichen und in dieser Form nicht vorhersehbaren Ölpreisanstieg hatte das die Rahmenbedingungen der Prognosen verändert.

Haben Sie einen derartigen Konjunktureinbruch schon einmal erlebt?

Ja, wir hatten die erste und vor allem die zweite Ölkrise 1981 bis 1982, die ähnlich dramatisch verliefen. Dennoch schien in diesem Sommer das Schlimmste überwunden zu sein. Die weltweiten ESI-Umfragen, die das Ifo alle viertel Jahre in 80 Ländern durchführt, hatten bereits wieder einen Silberstreif am Horizont gezeigt. Dann kam der Anschlag auf das World Trade Center. Seitdem haben sich Erwartungen und Lagebeurteilung extrem verschlechtert, der deutsche Ifo-Index, der monatlich aus der Befragung von 7000 Unternehmen gewonnen wird, fiel so stark wie seit der ersten Ölkrise im Jahr 1973 nicht mehr, und der weltweite ESI-Indikator, das wissen wir seit vergangenen Mittwoch, fiel auf den niedrigsten Wert seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1981.

Deutschland hat die Krise weit stärker getroffen als seine Nachbarn. Warum ist die Bundesrepublik - was das Wachstum betrifft - Schlusslicht in Europa?

Wir haben seit 1995 das niedrigste Wachstum in Europa, und das wird auch so bleiben, solange die strukturellen Probleme des Landes nicht gelöst sind.

Welche sind das?

Da ist zum einen der Arbeitsmarkt. Wir müssen wegkommen von der Vorstellung, dass wir Wachstum brauchen, um den Arbeitsmarkt zu mobilisieren. Vielmehr -müssen wir den Arbeitsmarkt mobilisieren, um Wachstum zu haben. Es gibt zu viele Regulierungen, die zwar alle gut gemeint sind, weil sie den Arbeitnehmer schützen sollen, aber im Endeffekt dazu führen, dass die Unternehmen im Vorfeld einer Investition zurückhaltender sind, als sie es sonst wären, und die geschätzten Arbeitsplätze gar nicht erst schaffen.

Die hohe Arbeitslosigkeit ist demnach der Preis, den das Land für seine soziale Sicherheit zahlt?

Die angebliche soziale Sicherheit gibt es doch gar nicht. Am meisten Sicherheit schafft man, wenn die Bedingungen für Vollbeschäftigung hergestellt werden. Dann sind viele der sozialen Schutzvorkehrungen gegen den Verlust des Arbeitsplatzes entbehrlich. Wir sind in diesem Land auf der total falschen Schiene: Weil es Arbeitslosigkeit gibt, denken wir, wir müssen die Leute gegen die Arbeitslosigkeit absichern - mit der Folge, dass es noch mehr Arbeitslose gibt.

Welche Strukturprobleme sehen Sie noch?

Wir müssen Armut und Schutzbedürftigkeit neu definieren. Wenn man Menschen dafür bezahlt, dass sie arbeitslos sind, dann sind sie halt arbeitslos - in einem größeren Umfang, als das sonst der Fall wäre. Das ist kein moralischer Vorwurf, sondern ein einfacher ökonomischer Mechanismus. Niemand wird einen Job annehmen, der einen Lohn unterhalb des Arbeitslosengelds, der Arbeitslosenhilfe oder der Sozialhilfe bietet. Je höher diese Hilfsniveaus sind, desto höher ist der Mindestlohn, den man dafür verlangt, dass man einen neuen Job annimmt. Bei einem hohen Mindestlohn stehen aber nicht so viele Arbeitsplätze zur Verfügung, denn die Menge der hoch produktiven Jobs, die hohe Löhne verkraften, ohne dass der Unternehmer das Handtuch wirft, ist begrenzt. Weniger produktive Jobs, die nur bei niedrigem Lohn geschaffen werden, gibt es indes viele.

Soll der Staat also niedrige Lohngruppen subventionieren?

Ich halte das für die einzige Lösung. Wir haben ein dreistufiges System entwickelt: Leute, die bedürftig sind, sollen ein Lohneinkommen für staatliche Arbeit bekommen, das so hoch ist wie die heutige Sozialhilfe. Das wird den Reiz der Sozialhilfe schon einmal deutlich reduzieren. Wer diese Arbeit ablehnt, obwohl er als arbeitsfähig eingestuft wurde, bekommt sehr viel weniger als die heutige Sozialhilfe. Und wer sich in die Marktwirtschaft integriert, wer einen Job in der Wirtschaft annimmt, bekommt auch Geld vom Staat - und zwar so viel, dass die Summe aus seinem Lohn und dem staatlichen Geld mehr ergibt als die heutige Soziahilfe. Das System wird die Löhne im unteren Bereich senken und deshalb den meisten der jetzigen Sozialhilfebezieher private Jobs verschaffen.

Solche Reformen wirken langfristig. Kann die Regierung etwas tun, um kurzfristig die Wirtschaft zu beleben?

Ja, die ruhige Hand muss zupacken. Wann ist die Zeit zum Handeln, wenn nicht jetzt? Die Wirtschaft leidet derzeit akut unter einem Nachfragemangel, verursacht durch das Abwarten der Konsumenten und Investoren. Die Wirtschaftsforschungsinstitute haben deshalb vorgeschlagen, die dritte Stufe der Steuerreform vorzuziehen, was die verfügbaren Einkommen der Privaten immerhin um 0,3 Prozent des Sozialprodukts vergrößern wurde und einen Konsumschub mit sich brächte. Und weil der Konsum ja anderswo wieder Einkommen und damit Nachfrage schafft, wäre das zusätzliche Wachstum sogar noch erheblich stärker.

Die Leute haben ja nicht zuwenig Geld, um es auszugeben. Sie geben ihr Geld nicht aus, weil sie Angst vor der Zukunft haben - und deshalb könnten sie auch die Steuerersparnisse aufs Sparbuch legen.

Ja, das ist eine Gefahr. Aber man muss es probieren, zuma1 ja die Lohnsteuern auch aus strukturellen Gründen gesenkt werden müssen. Deutschland belastet die Erträge der menschlichen Arbeitskraft stärker mit Abgaben als jedes andere Land der Welt. Beim durchschnittlichen Arbeitnehmer werden von der Wertschöpfung einer zusätzlichen Arbeitsstunde sage und schreibe 67 Prozent vom Staat abgeschöpft.

Bringt ein Vorziehen von Steuererleichterungen nicht den Sparkurs von Finanzminister Hans Eichel in Gefahr, wenn jetzt mehr Schulden gemacht werden?

Ich sehe die Gefahr nicht. Kurzfristig wird die Netto-Neuverschuldung um 0,3 Prozent des Sozialprodukts hochgehen, die partielle Selbstfinanzierung der Steuersenkung durch den Wachstumsschub und die dann wieder steigenden Steuereinnahmen noch gar nicht gerechnet. Das bedeutet, dass wir nächstes Jahr bei 2,6 Prozent statt 2,3 Prozent Defizitquote stehen, also noch deutlich unter der Maastricht-Grenze von 3 Prozent. Das längerfristige Ziel, bis zum Jahr 2006 einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen, kann Herr Eichel dennoch erreichen, denn bis dahin kommt der nächste Boom bestimmt, so dass Budgetüberschüsse zur Vermeidung einer Überhitzung angebracht sind.

Welche Möglichkeiten hat die Regierung noch?

Sie könnte endlich das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz anwenden, das 1967 beschlossen wurde ...

... und seither von weiten Teilen der Wirtschaftswissenschaft als Irrtum aus keynesianischen Zeiten gegeißelt wurde.

Sinn: Nicht von mir. In meinen Vorlesungen tauchte Keynes immer auf, nur sind seine Rezepte meistens nicht angebracht, weil die ökonomischen Krankheiten, die man diagnostizieren kann, in der Regel nicht auf einer Nachfrageschwäche -beruhen. Heute haben wir aber nun einmal eine Nachfrageschwäche, und die muss man mit Nachfrage belebenden Maßnahmen bekämpfen. Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz sagt, dass Investitionen mit bis zu 7,5 Prozent gefördert werden können. Da Investitionen zunächst einmal Nachfrage sind und da sie im Konjunkturzyklus am meisten schwanken, muss man bei ihnen ansetzen, wenn man die Konjunktur wieder beleben will. Finanzierbar ist auch das. Wenn nur die Netto-Investitionen gefördert werden, kommt man auf 0,25 Prozent des Sozialprodukts als Budgetbelastung. Das ist ebenfalls eine Alternative, die Maastricht nicht gefährdet.

Lange Zeit war die Nachfragetheorie des britischen Nationalökonomen John Maynard Keynes aus der Mode. Jetzt beschließen sogar die Amerikaner Konjunkturprogramme, und auch viele Ökonomen schwenken um. Geht die Ära des Neoliberalismus zu Ende?

Das Wort Neoliberalismus kenne ich nur aus der Presse. Das ist fast ein Schimpfwort für die ökonomische Theorie an sich, die die Funktionsweise von Märkten untersucht.

Gemeint ist ein radikaler Marktliberalismus. Der Staat, fordern seine Vertreter, soll sich möglichst aus der Wirtschaft zurückziehen. Und nun wird plötzlich wieder nach dem starken Staat gerufen.

Ich glaube nicht, dass sich die grundlegende Rolle des Staates ändert, nur weil jetzt Rezessionsbekämpfung gefordert wird. Natürlich hat der Staat eine wichtige Rolle in der Wirtschaft. Er muss helfen, die Einkommensvertellung weniger ungleich zu machen. Er muss öffentliche Güter anbieten, die die Privaten nicht anbieten können. Er muss auch die Wirtschaft regulieren, um negative Auswirkungen auf Dritte zu verhindern. Aber er muss das alles in Maßen tun, und das richtige Maß hat der Staat weit überschritten.

Dennoch fällt auf, dass ausgerechnet die Amerikaner dreistellige Milliardenbeträge in die Wirtschaft pumpen.

Die Amerikaner haben eben nie diese dogmatische Position gehabt wie manche in unserem Land. Wir neigen immer zu Extremen. Es kann in bestimmten Situationen durchaus notwendig sein, die Nachfrage zu stimulieren, es bleibt aber gleichzeitig notwendig, die langfristigen Strukturprobleme in den Griff zu bekommen. Das ist überhaupt kein Widerspruch.

Die US-Zentralbank hat in diesem Jahr schon zehn Mal die Zinsen gesenkt, ohne dass die Wirtschaft wieder in Schwung gekommen wäre. Wenn sie so weitermacht, sind bald null Prozent erreicht. Was dann?

Irgendwann wird es schwierig. In der Nähe von null, etwa bei einem halben Prozent, liegt die natürliche Untergrenze für den Zins, die so genannte Liquiditätsfalle. Wenn sie erreicht ist, kann sie Geldpolitik nichts mehr bewirken. S-Notenbankchef Alan Greenspan ist also dabei, sein Pulver zu verschießen. Er muss es auch, jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Aber irgendwann ist es verschossen - und wenn die Konjunktur dann immer noch nicht anzöge, dann hätten wir ein Problem.

Drohen dann japanische Verhältnisse?

Ja, Japan steckt in der Liquiditätsfalle fest. Amerika ist aber nicht Japan. Die US-Wirtschaft ist sehr viel robuster.

Bisher jedenfalls haben die Zinssenkungen noch nichts gebracht.

Der Anschlag auf das World Trade Center kam dazwischen, danach ging es noch einmal runter. Es dauert jetzt ein halbes Jahr, bis die Investitionen anziehen und das gigantische Konjunkturprogramm von 1,5 Prozent des Sozialprodukts wirksam wird. Eine solche Größenordnung hat es noch nie gegeben. Das muss wirken. Das wird wirken.

Sie sind also durchaus optimistisch. Trauen Sie sich - trotz allem - eine Prognose für das nächste Jahr?

Die Konjunktur zieht auch bei uns in der zweiten Hälfte des nächsten Jahres wieder an, aber der Arbeitsmarkt wird ein Dauerproblem bleiben, wenn nicht endlich grundlegende Reformen in Angriff genommen werden.

Herr Professor Sinn, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führten die Redakteure Alexander Jung und Armin Mahler.