Reformbedarf: Müssen wir das deutsche Sozialsystem auf US-Niveau eindampfen? Nein, meint Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchener Ifo-Instituts - aber von den Amerikanern könnten wir trotzdem einiges lernen.
mm*: Herr Professor Sinn, was ist Ihre Diagnose der deutschen Krankheit?
Sinn: Wir haben einen verkrusteten Sozialstaat, der die Bürger fehlleitet. Unser sozialen Sicherungssysteme sind zu umfangreich. Doch ohne sie würde unsere Gesellschaft nicht funktionieren. Ich setze auf Umbau statt Abbau des Sozialstaats. Ein gut konstriertes Sozialsystem kann zu ein in produktiven Faktor Deutschlands werden.
Eine ungewöhnliche Überlegung, die müssen Sie erklären.
Sicherheit und sozialer Friede sind die Grundvoraussetzungen für das Funktionieren einer komplexen Wirtschaft. Wenn die Leute demonstrieren und sich die Köpfe einschlagen, wird nicht gewirtschaftet. Außerdem halte ich ein gewisses Maß an Umverteilung2 der durch Knappheit bestimmten Markteinkommen für gerecht.
Sozialer Ausgleich ist prima. Aber offensichtlich können wir uns das heutige Niveau nicht mehr leisten.
Das stimmt. Potenziell sind soziale Sicherungssysteme jedoch sehr nützliche Einrichtungen. Sie geben den Menschen das Selbstvertrauen, Dinge zu wagen. Wenn sie scheitern, werden sie aufgefangen. Ein solches Auffangsystem hat nicht nur negative Effekte auf die Leistungsbereitschaft, sondern auch positive. Die Risikobereitschaft nimmt zu. Wenn die Leute risikobereit sind, werden sie im Durchschnitt höhere Erträge erwirtschaften. Die Wirtschaft wächst schneller, der Wohlstand steigt.
Also ist es gar nicht nötig, amerikanische Verhältnisse einzuführen?
Wenn Sie damit das insgesamt geringere Schutzniveau der Amerikaner meinen, ist die Antwort ein eindeutiges Nein. Wir können aber von den Amerikanern lernen, was die Anreize des Sozialsystems betrifft.
Wie denn?
Es ist falsch, den Menschen nur unter der Bedingung zu helfen, dass sie nichts tun. Wem man hilft, der sollte sich auch selbst helfen.
Wie sähe Ihr Sozialstaat aus?
Mein System ist dreistufig: erstens die Sozialhilfe alter Art. Die bekommt jeder Bedürftige, wenn er kein eigenes Einkommen erwirbt. Aber die Hilfe läge deutlich unter dem, was die Sozialhilfe derzeit zahlt. Zweitens gibt es ein Entgelt in der Höhe der heutigen Sozialhilfe. Es handelt sich dabei um ein Arbeitsentgelt, das unter der Bedingung gezahlt wird, dass man dafür beim Staat 40 Stunden in der Woche arbeitet.
Auch heute werden Sozialhilfeempfänger zur Arbeit verpflichtet.
Nein, für die Sozialhilfe muss keiner arbeiten. Man muss lediglich eine zumutbare Arbeit annehmen, wenn man sie angeboten bekommt. Die Sozialhilfe wird gekürzt, wenn man eine Arbeit verweigert, aber wenn man eine Arbeit annimmt. wird die Sozialhilfe ganz gestrichen. Mit einer gekürzten Sozialhilfe plus Schwarzarbeit steht man deutlich günstiger da, als wenn man regulär arbeitet. Das ist der falsche Anreiz.
Und Ihre dritte Stufe?
Leute, die in der Privatwirtschaft arbeiten, aber nicht mehr als die jetzige Sozialhilfe verdienen, bekommen einen Lohnzuschuss. Der hebt den Gesamtverdienst über das Niveau der heutigen Sozialhilfe.
Sie wollen also keine Working Poor wie in den USA?
Wir sollten die Armen gut behandeln. Aber was wir ihnen geben, sollten wir als Belohnung für ihre Arbeit bezahlen und nicht an die Bedingung des Nichtstuns knüpfen. Diesen Unsinn dürfen wir nicht fortsetzen.
*Das Interview führte Redakteur Henrik Müller.