Ifo-Institut: Erwerbslosigkeit ist vor allem ein strukturelles Problem
München/Münster. Über die aktuelle Konjunkturlage, die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und die Tarifpolitik sprach unser Redaktionsmitglied Michael Giese mit dem Präsidenten des Münchener ifo-Wirtschaftsforschungsinstituts, Hans-Werner Sinn.
Frage: Deutschland wartet auf den Aufschwung. Ist ein Silberstreif am Horizont schon zu erkennen?
Sinn: ja, vielleicht. Die Erwartungen der von uns befragten 7000 Unternehmen haben sich bei der letzten Umfrage wieder auf das Niveau erhöht, das sie vor den Anschlägen in den USA am 11. September vergangenen Jahres hatten. Allerdings halte ich eine Entwarnung zurzeit für verfrüht.
Frage: Ist diese konjunkturelle Talfahrt ein normales Tief, wie man es in vielen Konjunkturzyklen schon erlebt hat, oder ist sie - mit Blick auf den 11. September - wirklich einzigartig? Die Bundesregierung beruft sich darauf, dass die Terroranschläge zu diesem wirtschaftlichen Rückschlag geführt haben.
Sinn: Das ist sicher richtig. Wir hatten im Sommer vergangenen Jahres bereits die ersten positiven Anzeichen gesehen, auch weltweit. Damals war zu erwarten, dass der Aufschwung im zweiten Halbjahr 2001 einsetzen würde. Die Terroranschläge in den USA haben nach unserer Einschätzung das Wachstum 2001 weltweit um einen halben Prozentpunkt schrumpfen lassen, und in diesem Jahr wird es um einen Prozentpunkt kleiner ausfallen, als es sonst gewesen wäre. Insgesamt kommt also ein Verlust von 1,5 Prozentpunkten in beiden Jahren zusammen. Das ergibt einen Schaden von rund 200 bis 250 Billionen Euro - eine gewaltige Summe.
Frage: Seit den siebziger Jahren steigt in Deutschland die Sockelarbeitslosigkeit. Wie sehen Ihre Prognosen für den Arbeitsmarkt zum Ende des Jahres aus?
Sinn: Die Erwerbslosigkeit wird in diesem Jahr im Durchschnitt bei gut vier Millionen liegen. Wir werden in der zweiten Jahreshälfte eine Entspannung bekommen. Allerdings ist das Arbeitslosigkeitsproblem nicht nur ein konjunkturelles Problem, sondern vor allem ein strukturelles. Das lässt sich zum einen auf die starren Arbeitsmärkte zurückführen. Zum anderen wurde in den Achtziger Jahren bis in die Mitte der neunziger Jahre eine durchaus aggressive Lohnpolitik betrieben. Die Lohnzurückhaltung in den letzten Jahren hat dies noch nicht kompensieren können.
Frage: Die Gewerkschaften wollen nun mit hohen Lohnforderungen die Kaufkraft stärken. Ist das ein probates Mittel, um die Wirtschaft anzukurbeln?
Sinn: Das Gewerkschaftsargument ist nicht richtig. Die Kaufkraft der Haushalte würde zwar gestärkt, aber jene der Unternehmen gesenkt. Die Unternehmen kaufen ebenfalls Güter von anderen Unternehmen, nämlich Investitionsgüter. Die Investitionsgüter-Nachfrage reagiert überaus negativ auf Lohnerhöhungen. Sie lassen bedeutende Investitionen nicht mehr rentabel erscheinen, so dass diese dann unterbleiben. Der Rückgang der Investitionen, der auf Grund der Lohnerhöhung zu erwarten ist, und der damit einhergehende Nachfragerückgang nach Produkten des Unternehmenssektors ist sehr viel gravierender einzuschätzen als ein potenzieller Anstieg des privaten Konsums.
Frage: Die Metallarbeitgeber fürchten einen Verlust von 120 000 bis 140 000 Arbeitsplätzen...
Sinn: Das scheint mir realistisch zu sein. Langfristig muss man damit rechnen, dass ein Prozent Lohnerhöhung die Beschäftigung um ein bis zwei Prozent vermindert.
Frage: Vor den Bundestagswahlen ist der Reformmotor vollends zum Erliegen gekommen. Weist der Sparkurs von Hans Eichel noch in die richtige Richtung?
Sinn: Eichel hätte sich zu einem früheren Zeitpunkt mehr Pulver trocken halten müssen, um jetzt in der Lage zu sein, antizyklisch die Nachfrage zu stimulieren. Mittlerweile ist sein Handlungsspielraum geschrumpft. Aber man muss nun Konjunktur einmal Konjunktur sein lassen und an die langfristigen strukturellen Aufgaben denken, insbesondere daran, wie sich die Hemmnisse auf dem Arbeitsmarkt und die Fehlanreize, die aus dem Sozialsystem kommen, abbauen lassen.
Frage: Was heißt das konkret?
Sinn: Das heißt konkret, dass der Flächentarifvertrag aufgeweicht werden muss. Schwache Betriebe müssen Lohnleitlinien auch unterschreiten können, wenn die Arbeitnehmer dieses Betriebes damit einverstanden sind. Zudem müssen Kündigungsschutz und Mitbestimmungsregeln, die alle sehr kostenträchtig sind und Arbeitsplätze kosten, auf lange Sicht hinterfragt werden. Schließlich heißt das für den Sozialstaat, dass die Gelder, die der Staat in Form von Frühverrentung, Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe zahlt - praktisch als Prämien dafür, das er sich aus dem Arbeitsmarkt absentiert, so nicht mehr fließen können. Der Staat darf das Geld, das er zur Verfügung hat, um Menschen geringerer Produktivität, also die Armen, zu unterstützen, nur unter der Bedingung auszahlen, dass sich diese Menschen auch dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen. Die Devise muss lauten: Nicht das Nichtstun, sondern die Beschäftigung muss bezahlt werden.
Frage: Müssen angesichts der knappen Kassen jetzt nicht endlich die, Subventionen auf den Prüfstand?
Sinn: Ja. Wir haben ein Subventionsvolumen von 100 bis 150 Milliarden Euro. Mit einer linearen Kürzung von zehn Prozent ließe sich ein erheblicher Einspareffekt für das öffentliche Budget erreichen.