Die Belastungen durch die Vereinigung und Fehler im Aufholprozess Ost allein erklären Deutschlands Schlusslicht-Position nicht
RAINER NAHRENDORF
Deutschland wird trotz seiner gegenwärtigen Wachstumsschwäche nicht zum Zweitligisten werden. Aber an Reformen führt kein Weg vorbei. Darin stimmen die Präsidenten des Ifo-Institutes, Professor Hans-Werner Sinn, und des DIW, Professor Klaus F. Zimmermann, überein.
DÜSSELDORF. Deutschland trug 2001 mit einem Wachstum von nur 0,6% die rote Laterne in der EU. Nach den Prognosen der EU-Kommission und der OECD wird sich daran 2002 nichts ändern. Für Edmund Stoiber ist dies ein Top-Wahlkampfthema. Das Handelsblatt versucht im Gespräch mit dem Präsidenten des Ifo-Institutes, Prof. Sinn, und dem Präsidenten des DIW, Prof. Zimmermann, einen Beitrag zur Versachlichung zu leisten.
Gibt es eine strukturelle Wachstumsschwäche Deutschlands?
Sinn: Dass Deutschland beim Wirtschaftswachstum und dem Exportanteil auf den Weltmärkten erheblich zurückgefallen ist, hat interne und externe Ursachen. Bei den internen Ursachen ist der Anstieg der Löhne und lohnbezogenen Abgaben an allererster Stelle zu nennen. Die realen Lohnkosten im verarbeitenden Gewerbe sind in den letzten 20 Jahren in Westdeutschland um über 40% gestiegen. In Holland betrug der Anstieg nur etwas mehr als 20% und in den USA etwa 8%. Die Folge war, dass die Zahl der Beschäftigtenstunden in den USA um gut 40% und in Holland um 20% anstieg, während sie -in Westdeutschland um etwa 5% zurückging. Die Ausweitung des Sozialstaates hat zu dem Lohnanstieg maßgeblich beigetragen, denn sie hat einerseits durch die Ausweitung der Anspruchstatbestände für Lohnersatzleistungen die Anspruchslöhne erhöht und andererseits die auf dem Faktor Arbeit lastende Abgabenlast gesteigert. Hinzu kommen als akute externe Ursachen die Verschärfung der Wettbewerbslage durch den Fall des Eisernen Vorhangs und die europäische Integration. Der Euro hat die deutsche Industrie ihres Wettbewerbsvorteils in Form niedrigerer Zinsen beraubt und zu einer Stärkung der Wachstumskräfte in anderen Ländern geführt.
Zimmermann: Tatsache ist, dass Deutschland in den letzten zehn Jahren etwas weniger gewachsen ist als andere EU-Länder und deutlich weniger als zum Beispiel die USA. Zum Teil erklären die vielfältigen Kosten der Wiedervereinigung das langsame Wachstum. Öffentliche Gelder sind in den Aufbau Ost geflossen, aber auch politische Reformanstrengungen galten verstärkt innerdeutschen Themen. So sind die für unsere Wettbewerbsfähigkeit wichtigen Reformen im Steuerrecht, im Bildungssektor und in der Forschung lange vernachlässigt worden. Außerdem gibt es in Deutschland einige deutliche Strukturprobleme, zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt. Für jedes Prozent Wirtschaftswachstum wird in Deutschland deutlich weniger Beschäftigung generiert als in den anderen EU-Ländern oder den USA. Das verschärft die Probleme der aktuellen Wachstumsflaute nochmals. Schließlich beeinträchtigen die Sparbemühungen in den öffentlichen Haushalten per se kurzfristig das Wirtschaftswachstum. Dazu kommt, dass bei den öffentlichen Investitionen gespart wird, statt eine Schrumpfung der konsumptiven Staatsausgaben einzuleiten. Das beeinträchtigt das Wachstum auch langfristig.
Bremsen vor allem die hohen gesamtwirtschaftlichen Kosten der Vereinigung und Fehler im Aufholprozess Ost das deutsche Wachstum?
Sinn: Die deutsche Vereinigung ist wirtschaftlich gründlich misslungen, weil Ansprüche auf Einkommensangleichung geweckt wurden, bevor die Angleichung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität realisiert werden konnte. Die Folge der antizipatorischen Einkommensangleichung war, dass die neuen Länder rasch in die Kategorie der Hochlohnländer aufstiegen und deshalb für international mobile Investoren nicht attraktiv waren. Die Wachstumsschwäche des Ostens überträgt sich rein rechnerisch in das geringe Niveau des gesamtdeutschen Wachstums. Darüber hinaus trägt sie zur westdeutschen Wachstumsschwäche bei, weil sie eine Perpetuierung der öffentlichen Transfers in die neuen Länder, die derzeit bei knapp 5% des westdeutschen Sozialproduktes liegen, erzwingt und den Investoren klarmacht, dass sie auch weiterhin mit hohen Lasten rechnen müssen, wenn sie sich in Deutschland engagieren.
Zimmermann: Ganz klar ist die deutsche Wiedervereinigung eine Riesenbelastung für die öffentlichen Haushalte gewesen. Gelder, die sonst für Bildung oder Infrastruktur in ganz Deutschland zur Verfügung gestanden hätten, wurden zur Finanzierung der Einheit genutzt. Das war politisch richtig, ist aber sicherlich nicht immer ökonomisch sinnvoll und effizient in der Ausführung gewesen. So haben die großzügigen Sonderabschreibungen zu überhöhten Bauinvestitionen in Ostdeutschland geführt, die jetzt zu einem harten Schrumpfungsprozess am Bau in Ostdeutschland zwingen. Auch hätten zum Beispiel frühzeitige Steuererhöhungen vermeiden können, die Einigungslasten über die Sozialversicherungssysteme und damit über die Lohnnebenkosten zu finanzieren. Aber Deutschland hat es auch verpasst, die öffentlichen Ausgaben nachhaltig unter Kontrolle zu bringen.
Wie kann Deutschland die Abstiegszone verlassen?
Sinn: Um das Wachstum wieder zu beschleunigen, müssen die Marktkräfte insbesondere auf dem Arbeitsmarkt aktiviert werden. Reformen sollten zunächst beim Sozialstaat ansetzen. Statt Geringqualifizierten Lohnersatzleistungen zu zahlen, kann man ihnen Lohnergänzungszukommen lassen, um ihre Anspruchslöhne zu senken und den Weg für neue Jobs frei zu machen und einen Niedriglohnsektor zu schaffen. Insgesamt sollte der Anstieg der sozialen Ansprüche begrenzt werden, um die exorbitante Abgabenlast zu senken. Eine neue Rentenreform ist dazu genauso erforderlich wie eine weitgehende Privatisierung der Krankenkassen und eine grundsätzliche Neuorientierung der Politik in den neuen Ländern, die die Eigenverantwortung der Menschen stärkt. Außerdem muss das Tarif- und Arbeitsrecht reformiert werden. Flächentarifverträge sollten den Charakter von Lohnleitlinien erhalten, die ein Betrieb unterschreiten kann, wenn die Mehrheit der Belegschaft dies möchte, um die Arbeitsplätze zu sichern. Der Kündigungsschutz sollte gelockert werden, um Neueinstellungen zu ermöglichen, die durch die derzeitigen Regeln verhindert werden. Tarifverhandlungen sollten im Ausgleich für Lohnzurückhaltung auf die Mitbeteiligung der Arbeitnehmer setzen. Last but not least ist das Ausbildungswesen zu stärken. An den harten Reformen, die oben beschrieben wurden, führt kein Weg vorbei, wenn Deutschlands Wirtschaft wieder gesunden soll.
Zimmermann: Die Gefahr ist nicht, dass Deutschland zum Zweitligisten wird. Das ist eher eine Gefahr für Japan. Deutschland sollte aber den Anspruch haben, wachstumsorientiert nicht anderen Ländern Europas zu folgen, sondern im Wettbewerb zu führen. Die Wirtschaftspolitik muss klare Schwerpunkte setzen. Erstens: Investitionen in Bildung und Forschung. Zweitens: Aktivierung der Arbeitsmärkte und Arbeitskräfte. Drittens: Vereinfachung der Steuersysteme. Viertens: die Liberalisierung der Produkt- und Dienstleistungsmärkte, zum Beispiel für Gesundheit, Pflege, Krankentransport und Handwerk, aber auch bei Gas, Strom, Autos und beim Internet. Mit diesen Maßnahmen kann Deutschland wieder zum Wachstumsmotor Europas werden.