Ifo-Chef Sinn will mehr Beschäftigung durch Abbau der Sozialhilfe erreichen
Die Vorschläge der Expertengruppe lassen sich nach Meinung des Präsidenten des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, auch auf Deutschland anwenden. Als Voraussetzung für eine drastische Kürzung der Sozialhilfe müsse es aber einen staatlichen Niedriglohnsektor geben. Mit Sinn sprach Philipp Neumann.
DIE WELT: Herr Professor Sinn, haben Sie das Patentrezept für Vollbeschäftigung gefunden?
Hans-Werner Sinn: Ja, denn wir setzen am Grundproblem der westeuropäischen Sozialsysteme an: Menschen bekommen dann Geld vom Staat, wenn sie die Bedingung erfüllen, keine Arbeit zu haben. Diese Geldzahlungen erzeugen Mindestlöhne, und die sind so hoch, dass nicht genug Jobs geschaffen werden.
DIE WELT: Das müssen Sie erklären.
Sinn: Nehmen Sie die Sozialhilfe. Niemand ist bereit, eine Arbeit anzunehmen, für die er einen Lohn bekommt, der unterhalb des Sozialhilfesatzes liegt. Bei der Arbeitslosenhilfe ist es genauso. Das heißt: Durch diese Lohnersatzzahlungen werden auf dem regulären Arbeitsmarkt Mindestlöhne geschaffen. Zu diesen Mindestlöhnen werden aber nicht genug Jobs bereitgestellt, weil die Produktivität der Hilfeempfänger für viele Jobs nicht hoch genug ist. Um diese Menschen in Arbeit zu bringen, müssten die Löhne abgesenkt werden, denn erst dann lohnt es sich für die Arbeitgeber, Stellen zu schaffen.
DIE WELT: Was schlagen Sie vor?
Sinn: Wir meinen, der Staat sollte das Geld, das er derzeit als Sozial- oder Arbeitslosenhilfe fürs Nichtstun bezahlt, für Beschäftigung ausgeben. Ohne zu arbeiten soll niemand, der erwerbsfähig ist, so viel Geld bekommen, dass er davon komfortabel leben kann. Das jetzige Sozialhilfeniveau soll nur erreicht oder überschritten werden können, wenn man dafür arbeitet. Der Staat zahlt Lohnsubventionen zu den Marktlöhnen hinzu. Die Mindestlöhne werden durch diese Maßnahmen beseitigt und die Marktlöhne purzeln. Das bringt die Jobmaschine zum Laufen.
DIE WELT: Und was passiert, wenn es trotzdem nicht genug Jobs gibt? Dann herrschen hier amerikanische Verhältnisse?
Sinn: Niemand muss hungern. Erstens werden die benötigten Jobs zur Verfügung stehen, wenn die Löhne ins Rutschen kommen. Wenn wir das amerikanische Beschäftigungsniveau erreichen, können wir uns glücklich schätzen. Zweitens schlagen wir ein großzügigeres System der Lohnsubventionen vor, als es in den USA praktiziert wird. Drittens sollen diejenigen, die trotz der Maßnahmen zunächst keine Arbeit finden, zu einem Lohn in Höhe der jetzigen Sozialhilfe beim Staat beschäftigt werden. Ein zweiter Arbeitsmarkt ist erforderlich, wenn man sicherstellen will, dass wirklich jeder die Möglichkeit hat, ein Einkommen oberhalb des Existenzminimums zu erwerben, wenn er es nur will. Das unterscheidet unseren Vorschlag vom amerikanischen Modell. Niemand kann hier durch den Rost fallen. Ein zweiter Arbeitsmarkt ist- in Deutschland die Grundvoraussetzung, dass man die Sozialhilfe für das Nichtstun substanziell absenken kann, ohne mit dem Verfassungsgericht in Konflikt zu kommen.
DIE WELT: Wie sieht dieser zweite Arbeitsmarkt konkret aus?
Sinn: Wir denken an einfache Arbeiten wie das Reinigen der Straßen, die Pflege der Parks oder Hilfstätigkeiten in staatlichen Behörden. Das sind Arbeiten, die jeder ausüben kann, die der Gesellschaft einen Nutzen stiften und die ausschließen, dass die Betroffenen das staatliche Geld kassieren und dann zusätzlich auf dem Schwarzmarkt arbeiten. Die Sache muss hinreichend unattraktiv sein, um den beim Staat Beschäftigten einen Anreiz zu geben, sich möglichst schnell nach einem regulären Job in der Privatwirtschaft umzusehen. Da die regulären Jobs, im Niedriglohnbereich so subventioniert werden, dass man in der Summe aus staatlichem Geld und selbstverdientem Lohn auf mehr als die Sozialhilfe kommt, sind wir zuversichtlich, dass die Sache funktioniert.
DIE WELT: Im Prinzip schlagen Sie also eine Lohnsubvention vor. Die gibt es aber doch schon mit dem Kombilohn.
Sinn: Die derzeit auf dem Tisch liegenden Kombilohnmodelle sind keine Lösung, weil sie nicht mit dem Sozialhilfesystem verzahnt sind. Beim so genannten Mainzer Modell wird zwar ein Anreiz ausgeübt, Jobs oberhalb der Grenze von 325 Euro anzunehmen. Aber wenn. das Einkommen über eine bestimmte Grenze steigt, verringert sich die Subvention der Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung. Das bedeutet: Wenn man sich anstrengt und brutto mehr verdient, hat an netto weniger in der Tasche als vorher. Das ist absurd. Unser System integriert die Kombilohnidee in das gesamte Sozialhilfesystem.
DIE WELT: Ist Ihr Vorschlag denn so realistisch, dass er politisch durchgesetzt werden kann? Immerhin wollen Sie die jetzige Sozialhilfe drastisch kürzen.
Sinn: Ich sehe keinen anderen Weg, die Lethargie der deutschen und europäischen Arbeitsmärkte zu überwinden, ohne zugleich einen Sozialabbau zu betreiben. Mit unserem Vorschlag werden die Betroffenen besser gestellt, weil sie durch Integration in den ersten Arbeitsmarkt mehr Einkommen als bei der jetzigen Sozialhilfe erhalten und sich durch die staatlichen Jobs mindestens die jetzige Sozialhilfe sichern können. Natürlich erfordert das ein Umdenken in der deutschen Gesellschaft. Es bedarf mutiger Politiker, die dieses Thema aufgreifen und es so darstellen, dass die Wähler begreifen, dass es keine Alternative zu dieser Politik gibt.
DIE WELT: Ist das Modell bezahlbar?
Sinn: Wir haben nachgewiesen, dass unser System billiger ist als das bestehende, denn es gibt weniger Empfänger von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe. Zwar wird die Zahl der Menschen, die staatliche Lohnsubventionen bekommen, größer. Aber pro Kopf muss der Staat sehr viel weniger zahlen, wenn die Leute auf dem Arbeitsmarkt zusätzlich ein eigenes Einkommen erwerben.
DIE WELT: Wie schnell wirkt Ihr Programm?
Sinn: Es wirkt langfristig, weil es eine strukturelle Anpassung der Wirtschaft auslöst und nicht bloß ein Strohfeuer ist. Zehn Jahre muss man für den vollen Effekt rechnen. Man wird in Deutschland auf dieses Weise zwei bis drei Millionen Jobs schaffen können, wovon mehr als eine halbe Million bereits innerhalb einer Legislaturperiode zu Stande kommt. Das sollte genug sein, um trotz, der Kurzatmigkeit des demokratischen Entscheidungsprozesses. eine Kehrtwende der Politik zu ermöglichen.