"Wir müssen aufpassen"

Die Gefahr der Deflation ist für Deutschland noch nicht völlig gebannt, meint Hans-Werner Sinn, Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung (ifo), in München.
Wertpapier Nr. 25/2002, 11.2002, 10

Die Gefahr der Deflation ist für Deutschland noch nicht völlig gebannt, meint Hans-Werner Sinn, Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung (ifo), in München. 

Professioneller Skeptiker: Wenn wir nicht aufpassen, rutscht Deutschland in die Deflation ab, meint der streitbare ifo-Chef Hans-Werner Sinn.

WERTPAPIER: Herr Professor Sinn, müssen die Deutschen Angst vor Deflation haben?

SINN: Ja, das Beispiel Japan hat gezeigt, welch riesiges Fiasko sie für die Volkswirtschaft bedeuten würde. Wir haben nur eine Inflation von knapp über 1 Prozent. Wären es 2 oder 3 Prozent, wäre mir wohler.

WERTPAPIER: Ist die Deflationsgefahr unausweichlich?

SINN: Nein, keinesfalls. Dass es eine Gefahr gibt, heißt ja noch nicht, dass sie auch wahrscheinlich ist. Die Angst begründet sich in der Größe des möglichen Schadens, nicht in der Höhe der Wahrscheinlichkeit, dass der Schadenfall wirklich eintritt. Aber wir müssen aufpassen.

WERTPAPIER: Worin besteht denn diese Gefahr im Detail?

SINN: Die Europäische Zentralbank verfolgt ein Inflationsziel von 2 Prozent. Doch die Euroländer inflationieren nicht alle in gleicher Höhe. Sie werden auch noch für längere Zeit unterschiedliche Preisänderungsraten haben, weil die Preisniveaus noch unterschiedlich sind. Der Durchschnitt, den die EZB für Europa anstrebt, könnte für uns zu niedrig sein.

WERTPAPIER: Die japanische Notenbank bekämpfte die Inflation noch engagiert, als die Deflation bereits vorhanden war. Was macht es so schwierig, die Deflation rechtzeitig zu erkennen?

SINN: Bis die Preise reagieren, vergeht einige Zeit, und dem geht eine so genannte deflatorische Nachfragelücke voraus.

WERTPAPIER: Was heißt das konkret?

SINN: Wenn mehr gespart als investiert wird. In Deutschland liegt dieser Sparüberhang bei etwa 5 Prozent und in Japan bei 8 Prozent. In Japan wird der Überhang durch eine immense Staatsverschuldung aufgefangen. Was die privaten Haushalte in Japan zu wenig nachfragen, sucht der Staat durch Nachfrage auszugleichen. Das funktioniert kurzfristig. Langfristig steigt die Staatsschuld, und die Probleme werden nur noch größer, weil eine Staatskrise droht.

WERTPAPIER: Aber soweit sind wir in Deutschland noch nicht.

SINN: Nein, aber sollte bei uns der Sparüberhang größer werden - weil sich die Investitionstätigkeit weiter verschlechtert, wäre das ein Warnsignal. Immerhin waren die Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrem jüngsten Gutachten über die Schwäche der Investitionen überrascht und haben ihre Prognose vom Frühjahr nach unten revidiert.

WERTPAPIER: Die Wirtschaft hofft auf Zinssenkungen. Wie stark sollte die Zinssenkung denn ausfallen?

SINN: Eine Zinssenkung ist überfällig. 50 Basispunkte sollten es sein. Reagiert die Wirtschaft dann nicht, müsste schon bald eine weitere Zinssenkung um 0,5 Prozentpunkte folgen.

WERTPAPIER: Wie erklären Sie die bisherige Zurückhaltung der EZB?

SINN: Es wird zu stark auf andere Länder geschaut, vor allem auf die kleinen Länder. Die sind gemessen an ihrem wirtschaftlichen Gewicht zu stark im Zentralbankrat repräsentiert.

WERTPAPIER: Das Problem wird sich verschärfen, wenn die osteuropäischen Länder den Euro bekommen. Ist die Stimmverteilung im EZB-Rat noch haltbar?

SINN: Nein, die internen Entscheidungsstrukturen der EZB müssen grundlegend revidiert werden. Die doppelte einfache Mehrheit wäre für Beschlüsse anzustreben, wie es die EU-Kommission seinerzeit vergeblich für den Gipfel von Nizza vorschlug.

WERTPAPIER: Einige Mitgliedsstaaten reden von einer Flexibilisierung der Maastricht-Kriterien.

SINN: Es wäre fatal, wenn man beim ersten Mal, da die Kriterien greifen, sie schon in Frage stellen würde.

WERTPAPIER: Also keine Flexibilisierung.

SINN: Nicht im Moment. Ich bin aber der Meinung, dass man zu gegebener Zeit den Pakt verändern sollte. Man sollte jenen Ländern mehr Flexibilität eröffnen, die mit ihrer Schuldenquote unter 60 Prozent liegen, um ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, eine antizyklische Haushaltspolitik zu betreiben.

WERTPAPIER: Schröders Wirtschaftspolitik wird mit Brünings Sparpolitik aus den 30er Jahren verglichen. Sehen Sie Parallelen?

SINN: Ja, natürlich. Die Parallelen liegen auf der Hand. Zum Sparen gibt es keine Alternative. Maastricht erzwingt eine solche Parallelpolitik.

Das Gespräch führte Dieter Heumann

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