Drei Topökonomen im FTD-Gespräch über Deutschlands Zukunft: Yale-Professor Robert Shiller, Hans-Werner Sinn, Chef der Ifo-Instituts, und Martin Hüfner, Chefökonom der HypoVereinsbank
Von Sebastian Dullien und Harald Ehren
FTD Herr Shiller, Ihre amerikanischen Landsleute benutzen das deutsche Wort "Angst", weil Sie in Ihrer Sprache keinen Ausdruck für diesen Begriff haben. Wird demnächst die "Reformdebatte" in den englischen Wortschatz aufgenommen - für viel Gerede um die Krise, auf das keine Taten folgen?
Shiller Das glaube ich nicht. Deutschland hat eine lange Geschichte radikaler Reformen, zurückgehend auf die Sozialreformen des Reichskanzlers Otto von Bismarck in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts. Auch damals befand sich Deutschland in einer tiefen Krise. In jener Zeit gab es einen großen, fruchtbaren Diskurs, der zu konkreten Reformen geführt hat. Diese Reformen waren so erfolgreich, dass sie weltweit kopiert wurden. Das heutige US-Rentensystem ist fast eine Kopie dessen, was Bismarck in Deutschland einführte.
FTD Sie beschwören die guten alten Zeiten, auf die Sie auch in Ihrem Buch "Die neue Finanzordnung" eingehen. Was muss hierzu Lande geschehen?
Shiller Deutschland ist eine sehr erfolgreiche Volkswirtschaft, die im Vergleich zu den meisten Ökonomien der Erde eigentlich nicht viel zu fürchten hat. Ich hoffe, dass die aktuellen Reformen Deutschland helfen, wieder eine führende Rolle in der Welt einzunehmen. Das geschieht aber nur, wenn es die Politiker schaffen, ein wirklich neues, bahnbrechendes Modell für den modernen Sozialstaat zu formulieren.
FTD Bahnbrechendes ist in der Diskussion derzeit kaum zu finden. Sie dagegen, Herr Sinn, fordern in Ihrem neuen Buch "Ist Deutschland noch zu retten?" radikale Umbrüche. Wollen Sie die Errungenschaften der vergangenen 100 Jahre über Bord werfen?
Sinn Wir Deutschen, die den Sozialstaat erfunden haben, erfahren nun die Nachteile einer ausufernden Absicherung. Deutschlands größtes Problem sind die zu großzügigen Lohnersatzleistungen, wie das Arbeitslosengeld, die Frührente und vor allem die Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Bei uns konkurriert der Staat mit dem Privatsektor um die Löhne der Niedrigqualifizierten.
FTD Was heißt das denn konkret?
Sinn Der Wohlfahrtsstaat konkurriert mit der freien Wirtschaft im Arbeitsmarkt. Das ist umso dramatischer, als die deutsche Wirtschaft in einem harten internationalen Konkurrenzkampf mit Niedriglohnländern steht. Derzeit gerät die deutsche Wirtschaft von zwei Seiten unter Druck: vom Staat und seinen ausufernden Sozialleistungen, der die Löhne hochtreibt, und von der Niedriglohnkonkurrenz aus Asien. Das kann unsere Ökonomie auf Dauer nicht verkraften.
FTD Welchen Rat ziehen Sie aus Ihrer Analyse für die Politik?
Sinn Das Minimaleinkommen, definiert durch die Sozialhilfe, ist in Deutschland extrem hoch. Es ist zu nah an den Löhnen in den unteren Tarifgruppen. Deshalb haben wir auch im Vergleich zu den anderen OECD-Staaten ein Rekordniveau bei der Arbeitslosigkeit unter Geringqualifizierten. Um den Konkurrenzkampf zu bestehen, müssen in Deutschland die Löhne flexibler werden und es muss mehr Differenzierung zwischen den Löhnen hoch und niedrig qualifizierter Arbeiter geben.
FTD Eine bekannte Argumentation. Wo liegen die wirklichen Gründe für die derzeitige Krise?
Sinn Unser wohl größtes Problem ist die extrem niedrige Geburtenrate in diesem Land. Und ich mache dafür unser Rentensystem verantwortlich. Dadurch, dass die Renten unabhängig davon gezahlt werden, ob jemand Kinder hat oder nicht, besteht der Anreiz, keine Kinder zu bekommen. Stattdessen werden die Kinder der anderen quasi sozialisiert, indem sie für die Rentenzahlung auch an die Kinderlosen herangezogen werden.
FTD Zeigen die von Koalition und Opposition ausgehandelten Reformen in die richtige Richtung?
Sinn Die Reformen sind bislang nicht radikal genug, um das Ruder herumzureißen. Wir müssen radikale Reformen in Deutschland sofort angehen, sonst haben wir keine Chance mehr.
FTD Die USA haben eine höhere Geburtenrate und ein dynamischeres Wachstum als Deutschland. Herr Hüfner, sollten wir, wenn es um Reformen geht, uns ein Beispiel an den Amerikanern nehmen?
Hüfner Ich bezweifle, dass das US-System von vornherein dem europäischen überlegen ist. Der Sozialstaat ist eine gute Errungenschaft. Aber wir brauchen mehr Wachstum, um diesen Sozialstaat bezahlen zu können. Und um dieses Wachstum zu erzeugen, müssen wir lernen, viel europäischer zu denken. Wir können eine ganze Menge von anderen europäischen Ländern, etwa Frankreich, lernen. Wir haben noch lange nicht alle Früchte der europäischen Integration geerntet. Übrigens darf man nicht übersehen, dass das US-Wachstum seit 2001 vor allem Resultat einer schuldenfinanzierten Finanzpolitik ist, nicht einer strukturellen Überlegenheit.
FTD Wer Ihr Buch "Die neue Finanzordnung"' genau liest, stellt fest, dass Sie, Herr Shiller, ein Kritiker der amerikanischen Finanz- und Sozialpolitik sind. Warum?
Shiller Meine Kritik und vor allem die Verbesserungsvorschläge beziehen sich nicht allein auf die USA, ich spreche von allen Industrieländern, die einen neuen Weg gehen sollten. Im Gegenteil: Die USA haben einen gewaltigen Vorteil gegenüber den Europäern. Wir sind ein Land, das von Einwanderern geprägt ist. Seine Menschen sind daher viel wagnisbereiter als die Europäer.
FTD Wie zeigt sich das?
Shiller In einer Umfrage wurden Amerikaner und Europäer gefragt: "Könnte es den armen Menschen besser gehen, wenn sie sich mehr anstrengen würden, ihre Lage zu verbessern?" Die Mehrheit der amerikanischen Befragten stimmte zu, während die meisten Europäer diese Hypothese ablehnten. Viele Unterschiede in den Systemen lassen sich aus dieser Denkweise ableiten. Ich würde aber nicht Amerika von vornherein als Modell für Europa sehen.
FTD Dem Thema Migration nach Deutschland widmen Sie, Herr Sinn, in Ihrem neuen Buch gleich mehrere Kapitel. Sie sprechen vom "Zuwanderungsmagnet Sozialstaat".
Sinn Deutschland ist bei der Immigration gar nicht so weit entfernt von den USA. Die meisten hier zu Lande denken zwar, wir seien kein Einwanderungsland - wir sind es aber. Die Immigranten haben in den letzten 30 Jahren die schlecht bezahlten Jobs von den Deutschen übernommen. Statt dass diese nun eine Art Lohnkampf mit den Einwanderern geführt hätten, haben sie sich auf die üppigen Lohnersatzleistungen verlassen und es sich in der Hängematte des Sozialstaats gemütlich gemacht.
FTD Also lautet Ihr Rat, den Sozialstaat abzuschaffen?
Sinn Natürlich ist der Sozialstaat aus individueller Sicht keine schlechte Idee, und er kann auch dem Einzelnen die Angst vor Risiken nehmen. In Deutschland aber ist heute das wichtigere Problem, dass der Sozialstaat dazu motiviert, nicht zu arbeiten.
Hüfner Ich stimme Herrn Sinn zu. Fast alle Risiken werden derzeit noch vom Staat abgefangen. Ich plädiere für eine gewisse Privatisierung von Risiken, vor allem in den Sozialversicherungen. Ein Schritt dazu wäre etwa eine Umstellung des heute umlagefinanzierten Rentensystems auf ein kapitalgedecktes System, in dem jeder für seine Rente anspart. Genauso sollte man übrigens auch im Krankensystem verfahren.
Shiller Die Debatte um die Kosten der deutschen Sozialversicherungen ist in meinen Augen übertrieben. Allerdings müssen in den Sozialversicherungen die Anreize richtig gesetzt werden. Die Menschen müssen dazu angehalten werden, in ihre Ausbildung zu investieren, Risiken einzugehen, sich auf zukunftsweisende Felder zu spezialisierenden. Denn nur mit Spezialisierung können wir langfristig Innovationen und ein höheres Wirtschaftswachstum erreichen. Das ist meine zentrale Aussage: Wirtschaftlicher Fortschritt baut darauf, dass Menschen Risiken eingehen. In Deutschland sollte es deshalb bei den anstehenden Reformen nicht so sehr um die Kosten gehen, sondern darum, den Menschen mehr Freiraum für Entscheidungen zu geben.