Ifo-Präsident Sinn: Weitere 170 000 Stellen gehen verloren / Euro stützen
WIESBADEN Der Aufschwung steht vor der Tür, die Trendwende auf dem Arbeitsmarkt ist aber nicht in Sicht. Über die wirtschaftliche Lage und Reformansätze sprach Karl Schlieker mit dem Präsidenten des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn, in Wiesbaden.
Kurier: Herr Sinn, das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung sieht eine Erholung der
Sinn: Er wird ihn bremsen, aber nicht stoppen. Wenn der Kurs unter Kontrolle gehalten wird, bleibe ich optimistisch.
Kurier: Was sollte die Europäische Zentralbank (EZB) in dieser Situation tun?
Sinn: Sie muss ganz klassisch auf den Devisenmärkten intervenieren. Durch einen Verkauf von 30 Milliarden Euro kann die EZB den Kurs nachhaltig um zehn Prozent drücken.
Kurier: Was wäre die Marke, ab der die EZB einschreiten sollte?
Sinn: Wenn der Euro-Kurs gegen 1,30 Dollar geht, muss die Zentralbank unbedingt reagieren. Ich würde empfehlen, den Kurs unter 1,20 zu drücken. Ein natürlicher Kurs, der der OECD-Kaufkraftparität entspricht, liegt bei 1,07 bis 1,10.
Kurier: Sollte die EZB nicht die Leitzinsen senken?
Sinn: Im Umfeld eines sich ankündigenden Aufschwungs, der höhere statt niedrigere Zinsen benötigt, kommt eine solche Maßnahme zu spät. Das wäre vor einem Jahr richtig gewesen.
Kurier: Wird der Arbeitsmarkt vom Aufschwung profitieren?
Sinn: Ja, aber nur vorläufig in dem Sinne, dass sich der Abwärtstrend verlangsamt. Wir werden auch in diesem Jahr noch mit einem Arbeitsplatzabbau von 170 000 Stellen rechnen müssen und können die Talsohle bei der Beschäftigung erst gegen Ende des Jahres erreichen. Nicht täuschen lassen darf man sich von den Arbeitslosenstatistiken. Die sind reine Kunstprodukte. Die Bundesagentur für Arbeit ist seit April 2003 restriktiver bei der Auszahlung ihrer Gelder und veranlasst viele Menschen, sich nicht mehr arbeitslos zu melden. Seit Jahresbeginn werden zudem etwa 100 000 Arbeitslose nicht mehr gezählt, die in Trainingsmaßnahmen tätig sind.
Kurier: Was sind die Ursachen für die Jobmisere?
Sinn: Die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland leidet unter hohen Lohnkosten. Ein Grund dafür ist die extrem hohe Grenz-Abgabenlast. Sie liegt in diesem Jahr für einen verheirateten Industriearbeiter mit zwei Kindern bei exakt 64,4 Prozent bezüglich der Bruttowertschöpfung. Damit sind wir wahrscheinlich weltweit der Spitzenreiter. Diese Last muss reduziert werden, da sie den Arbeitsmarkt lähmt. Wenn der Staat zwei Drittel einer zusätzlichen Anstrengung einkassiert und nur ein Drittel an die Menschen fließt, dann gibt es Ausweichreaktionen. Leute arbeiten gar nicht mehr, die Schwarzarbeit blüht, Ausbildung lohnt nicht mehr. All diese Effekte beobachten wir in Deutschland. Die Lage wird durch eine wachsende Niedriglohnkonkurrenz aus aller Welt verschärft. Osteuropa ist heute für den Mittelstand das, was für die Großindustrie Asien war. Nämlich eine Möglichkeit, dem Kostendruck in Deutschland auszuweichen.
Kurier: Wird die EU-Erweiterung diesen Trend verstärken?
Sinn: Ja, weil der Standort Osteuropa dann noch sicherer wird. Ein immer größerer Teil der Wertschöpfung wird verlagert. Das zeigt sich allerdings nicht in der Industrieproduktionsstatistik. Die Produktion die in Deutschland gemessen wird, wächst weiter an. Aber dieses Wachstum findet gar nicht hier statt, sondern ist bereits zu zwei Dritteln auf eine ins Ausland ausgelagerte Fertigung zurückzuführen. Das Label "Made in Germany" wird zum Etikettenschwindel.
Kurier: Sind Exportstatistiken noch ein Maßstab für die nationale Wettbewerbsfähigkeit?
Sinn: Nein, weil in der Exportstatistik der Bruttowert der deutschen Ausfuhren aufgezeigt wird. Es wird nicht berücksichtigt, zu welchem Anteil diese Exporte in anderen Ländern erzeugt wurden. Deutschland entwickelt sich zur Basar-Ökonomie, die die Welt mit Waren beliefert, aber Schwierigkeiten hat, alle Menschen zu Hause zu beschäftigen.
Kurier: Wie wirksam sind die Arbeitsmarktreformen?
Sinn: Es waren sinnvolle Reformen, ihre Wirksamkeit ist jedoch begrenzt, weil sie den Schritt zu einer aktivierenden Sozialhilfe nicht wagen. Wir haben die höchste Arbeitslosigkeit unter den Geringqualifizierten in allen OECD-Ländern. Der Staat hat Lohnersatzeinkommen insbesondere für Geringqualifizierte angeboten. Diese Mindestlohnansprüche haben Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor vernichtet. Wir müssen den Sozialstaat umbauen. Der Staat muss die Leistungen, die er zur Verfügung stellt, als Lohnzuschuss statt als Lohnersatz zahlen.
Kurier: Drohen dabei nicht extreme Mitnahmeeffekte?
Sinn: Mitnahmeeffekte sollen und können nicht vermieden werden. Da aber der Arbeitsmarkt mobilisiert wird, wird dieses System nach Berechnungen des Ifo-Instituts nicht teurer, sondern billiger.
Hans-Werner Sinn | |
(kas)Der 1948 im westfälischen Brake geborene Hans-Werner Sinn zählt zu den bekanntesten deutschen Ökonomen. Seit 1999 führt der Münchner Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung, das bundesweit vor allem durch seinen Geschäftklima-Index regelmäßig in | den Medien präsent ist. Aber es zählt gleichzeitig zu den fünf führenden Wirtschaftsforschungsinstituten in Deutschland. Sinn machte zuletzt mit seinem 2003 im Econ-Verlag erschienenen kämpferischen Buch "Ist Deutschland noch zu retten?" Schlagzeilen. Dort wirbt er für radikale Wirtschafts- und Sozialreformen. |