Ifo-Chef Sinn kritisiert Bildungs- und Wirtschaftspolitik
Von unserem Redakteur Uwe Westdörp
Osnabrück, 3.10.
Das Interview, das der Präsident des Münchner Instituts für Wirtschaftsforschung (Ifo), Hans-Werner Sinn, unserer Zeitung gab, hat folgenden Wortlaut:
Herr Sinn, die Union streitet heftig über den Kurs in der Gesundheitspolitik. Kopfpauschale oder nach Einkommen gestaffelte Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung - was ist der richtige Weg?
Sinn: Ich halte die von der CDU vorgeschlagene Pauschale für das eindeutig bessere Modell. Die Einkommensumverteilung zwischen Arm und Reich gehört nicht in den Krankenversicherungstarif. Dafür haben wir ein progressives Steuersystem. Und was heißt überhaupt Kopfpauschale - das ist ein Unwort. Es geht um einen Preis für eine Dienstleistung, nämlich den Versicherungsschutz. Wenn alle Preise nach den Einkommen gestaffelt werden, sind alle Realeinkommen gleich. Dann haben wir den reinen Kommunismus.
Um die Gesundheitsprämie à la CDU sozial abzufedern, werden aber möglicherweise 35 bis 40 Milliarden Euro Steuermittel benötigt.
Sinn: Das hängt damit zusammen, dass die Kopfpauschale zu niedrig ist. 160 bis 180 Euro sind eindeutig zu wenig. 200 Euro oder mehr halte ich für realistischer. Die steuerlichen Zuschüsse von 40 Milliarden Euro werden von den Leistungsträgern der Gesellschaft bezahlt, die damit nach wie vor mehr zahlen müssen, als sie an Schutz bekommen. Langfristig sollte dieser Betrag abgeschmolzen werden.
Halten Sie eine einheitliche Prämie denn für politisch durchsetzbar?
Sinn: Schwer zu sagen. In Deutschland haben wir ein System geschaffen, in dem inklusive der Rentner über 40 Prozent der Wähler direkt in Form von sozialen Leistungen vom Staat abhängig sind, die Staatsbediensteten noch gar nicht mal gezählt. Rechnet man die wahlberechtigten Familienmitglieder hinzu, gibt es schon heute strategische Mehrheiten für eine Intensivierung der Umverteilung. Deutschland droht, politisch in die Richtung einer PDS-Politik umzukippen, die von den großen Parteien betrieben wird, um nicht unterzugehen.
Was sagen Sie zur kreativen Buchführung der Griechen, die ihre Angaben zum Haushaltsdefizit deutlich korrigieren mussten. Sind Sanktionen sinnvoll?
Sinn: Das Fatale ist: Wenn nur Griechenland betroffen wäre, würde es Sanktionen geben. Doch tatsächlich wird nichts passieren, weil dann auch Deutschland und Frankreich härter angefasst werden müssten. Der Stabilitätspakt leidet an einem Konstruktionsfehler: Die Sünder sitzen im Rat der EU-Finanzminister über sich selber zu Gericht und beschließen, sich nicht zu bestrafen. Eigentlich hätte man Entscheidungen über Strafzahlungen dem Europäischen Gerichtshof überlassen müssen.
Besserung ist in der Tat nicht in Sicht. Der Bund macht im Gegenteil in diesem Jahr so viele neue Schulden wie noch nie zuvor...
Sinn: Das ist ein riesiges Problem. Die nur noch dünn besetzten zukünftigen Generationen werden über Gebühr belastet. Irgendwann gibt es dann die Revolte der Jungen, die gigantische Beträge zurückzahlen sollen. Die Schuldenpolitik wird zudem den Wirtschaftsstandort Deutschland kaputtmachen. Wer sich hier niederlässt, muss doch befürchten, eines Tages die Zeche zahlen zu müssen - das schreckt Investoren ab.
Wie kommen wir raus aus der Schuldenfalle? Welche Subventionen müssen ge-strichen werden?
Sinn: Zum Beispiel die Koh-lesubventionen. Sie sind heute pro Kopf so hoch, dass sie ausreichen würden, die Begünstigten ganzjährig nach Mallorca zu schicken. Auch die Eigenheimzulage ist ein Unding, weil hier eine Mittelschicht der Bevölkerung gefördert wird mit Geldern, die wiederum von derselben Mittelschicht aufgebracht werden. Das ist absoluter Humbug.
Und wie steht es mit den Hilfen für Unternehmen?
Sinn: Ich meine: Der Staat muss sich aus der Förderung der Wirtschaft zurückziehen. Was gegenwärtig gemacht wird, ist das genaue Gegenteil von Marktwirtschaft. Die Unternehmen müssen sich ihr Geld von den Kunden holen und nicht vom Staat. Förderung darf nur dann erlaubt sein, wenn beispielsweise Know-how entwickelt wird, das später der Allgemeinheit zugute kommt. Auch Anschubfinanzierungen können befristet sinnvoll sein.
Was empfehlen Sie den Tarifparteien?
Sinn: Für die Beschäftigten darf es in den nächsten Jahren nicht mehr als einen Inflationsausgleich geben. Die Zeiten realer Lohn- und Gehaltssteigerungen sind vorbei. Wir sind in einer anderen historischen Phase, in der wir von Niedriglohnkonkurrenz auf der ganzen Welt bedrängt werden. Allein anderthalb Milliarden Chinesen treten in Arbeitskonkurrenz zu uns. Und dann kommen die Osteuropäer noch hinzu. Dem kann man sich auch nicht widersetzen, indem man Löhne verteidigt. Das führt nur zu noch mehr Arbeitslosen.
Was ist noch zu tun?
Sinn: Wir müssen besser werden. Aber besser werden ist nicht so leicht. Wenn wir unser Bildungssystem verbessern, dann sind in 20 Jahren die ersten besser ausgebildeten Menschen am Arbeitsmarkt. Kurzfristig hilft deshalb nur, billiger zu werden. Und der einfachste Weg, billiger zu werden, ist, länger zu arbeiten. Dazu brauchen wir die allgemeine 42-Stunden-Woche, und zwar ohne Lohnausgleich.
Sind nach dem PISA-Schock schon die richtigen Konsequenzen gezogen worden?
Sinn: Deutschland hat zwar begonnen, über die eklatanten Versäumnisse im Bildungswesen zu diskutieren. Noch immer aber hinken wir im internationalen Vergleich meilenweit hinterher. Und es werden die falschen Weichen gestellt, wie die Pläne der Bundesregierung zur Eliteförderung zeigen. Sie sind zum Scheitern verurteilt, weil kein politisches Gremium in der Lage ist, wissenschaftliche Eliten zu erschaffen. .
Und daraus folgt?
Sinn: Es sind radikalere Schritte erforderlich: So brauchen wir mehr Wettbewerb unter den Hochschulen und mehr Autonomie für die Universitäten, auch das Recht, Gehälter selbstständig festzulegen, um die besten Köpfe an bestimmten Hochschulen zu konzentrieren. Bei den Schulen müssen wir zur Ganztagsschule übergehen, die Ganztagsbetreuung in Kindergärten muss verbessert werden, und wir müssen aufhören, die Schüler bereits im Alter von zehn Jahren in Volksschüler, Mittelschüler und Oberschüler zu trennen. Dieses Drei-Klassen-System passte vielleicht ins neunzehnte Jahrhundert. Heute behindert es die Ausschöpfung von Begabungsreserven, und ungerecht ist es zudem, weil es Arbeiter- und Ausländerkinder immer noch benachteiligt.