Die Schweiz gelte in der EU als Rosinenpickerin, sagt der deutsche Hans-Werner Sinn. Dieses Image sei zwar nicht schön, die Rosinen seien es aber schon. Als Rezept für mehr Wachstum empfiehlt er der Schweiz, die Arbeitsanreize zu verbessern.
"BUND": Die Schweizer Wirtschaft würde schneller wachsen, wenn wir in der EU wären, sagen die hiesigen Beitrittsbefürworter. Was würden Sie uns raten?
Hans-Werner Sinn: Die Schweiz ist bereits weitgehend in den EU-Markt integriert. Deshalb sehe ich nicht, was der Beitritt noch bringen würde, ausser dass er kostet. Aus deutscher Sicht fände ich es gut, wenn die Schweiz dabei wäre. Dann hätten wir einen Nettozahler mehr.
Abbau von Zollschranken, Einführung des Euro: Es gäbe schon noch Integrationsschritte.
Der Euro ist ein zweischneidiges Schwert, auch für Deutschland. Er hat die niedrigen Zinsen, die Deutschland hatte, in andere Länder exportiert. Dadurch hat die deutsche Wirtschaft einen Wettbewerbsvorteil verloren. Ich bin als guter Europäer nicht gegen den Euro, aber es gibt auch Probleme mit ihm. Angesichts dieser Probleme und der negativen deutschen Erfahrungen könnte ich der Schweiz derzeit nicht guten Herzens empfehlen, dem Euro beizutreten. Es wäre für die Schweiz ratsam, das Instrument des flexiblen Wechselkurses nicht aus der Hand zu geben. Wenn die Wettbewerbsfähigkeit der Arbeiter ein Problem wird, kann man immer noch abwerten.
Handeln wir uns damit nicht immer stärker das Image der Rosinenpicker ein?
Klar. Das Image ist nicht schön, aber die Rosinen schon.
Wenn Deutschland hustet, dann kriegt die Schweiz einen Schnupfen. Wie geht es der deutschen Wirtschaft?
Den deutschen Unternehmen geht es gut, den Arbeitern schlecht. Die Arbeitslosigkeit schwächt sich derzeit zwar wegen der guten Konjunktur ab. Doch das Problem ist der langfristige Trend: Seit den 70er-Jahren nimmt die Arbeitslosigkeit stetig zu.
Wie kann dieser Trend gebrochen werden?
Der Arbeitsmarkt, der das Wachstum in Deutschland stark hemmt, muss flexibel werden. Und die Löhne müssen flexibler werden. Dazu brauchen wir einen Sozialstaat, der nicht wie heute viel Geld fürs Nichtstun bezahlt und so Mindestlohnansprüche definiert, die über der Produktivität einer wachsenden Zahl von Menschen liegen.
Das heisst, das Preis-Leistung-Verhältnis dieser Arbeitnehmer wird verzerrt?
Ja. Wir müssen Menschen fürs Mitmachen statt fürs Wegbleiben bezahlen. Dies erreichen wir mit staatlichen Lohnzuschüssen anstelle von Arbeitslosengeldern. So würden die Löhne flexibel. Durch die Arbeitslosenunterstützung haben wir heute faktisch Mindestlöhne. Wer arbeitet, verliert im neuen System nichts – im Gegenteil: Man kriegt erst dann das Geld vom Staat. Deswegen sind die Leute auch bereit, zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten. Das wirkt sich positiv auf den Arbeitsmarkt aus: Für solche Löhne wird es viel mehr Jobs geben.
Und die Kehrseite dieses Systems: Leute mit tiefen Löhnen können nicht mehr für ihren Lebensunterhalt aufkommen?
Nein. Der staatliche Zuschuss kommt zum Lohn hinzu. Beides zusammen ergibt auch für Geringqualifizierte ein sozial akzeptables Gesamteinkommen.
Wer heute vom Staat Geld erhält, wird nicht ärmer, wenn er einen Tieflohnjob annimmt?
Im Gegenteil. Sein Lebensstandard steigt. Das von unserem Institut entwickelte Modell sieht vor, dass die Leute mit einem Billigjob plus den staatlichen Zuschüssen mehr Geld in der Tasche haben, als wenn sie nur Arbeitslosengelder beziehen würden. Mit unserem System spart der Staat rund fünf Milliarden Euro im Jahr und die Armen erhalten mehr Geld.
Das tönt gut. Besteht aber in der Praxis nicht die Gefahr, dass Unternehmen Arbeitsplätze in dieses staatlich unterstützte Segment verschieben, um Geld zu sparen?
Der heutige Lohn für Geringqualifizierte ist zu hoch. Deshalb haben wir viel zu wenige Jobs für diese Leute. Durch die Hochlohnpolitik für wenig Qualifizierte sind diese Jobs künstlich vernichtet worden. Es kommt zu einer Verlagerung, aber es werden vor allem neue Jobs geschaffen, die es heute gar nicht gibt
Sie spielen die Gefahr der Verlagerung herunter.
Ich sehe hier einfach kein grosses Problem. Wenn es zu einer Verlagerung kommen sollte, dann ist sie effizient. Durch diese Strategie wird vor allem die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland verhindert. Die Firmen verlagern heute doch im grossen Stil einfache Arbeit in Niedriglohnländer in Osteuropa und Asien. Wenn wir in Deutschland tiefere Löhne haben, dann schaffen diese Firmen wieder bei uns Arbeitsplätze.
Laut Ihrer These führen tiefere Löhne zu mehr Jobs und mehr Jobs zu mehr Wachstum.
Deutschland hat, rechnet man die Frührentner hinzu, 15 Prozent Arbeitslose. Wenn man während 15 Jahren jedes Jahr die Quote um einen Prozentpunkt verringern könnte, würde dies doch erheblich zum Wirtschaftswachstum beitragen.
Die Arbeitslosen kosten den deutschen Staat jährlich 100 Milliarden Euro. Steigen die Kosten mit dem neuen System?
Die Zahl der Arbeitslosen wird abnehmen. Ob auch die staatlichen Ausgaben abnehmen, hängt davon ab, wie das neue System ausgestaltet wird. Wenn der Vorschlag der aktivierenden Sozialhilfe realisiert wird, den das ifo Institut empfohlen hat, dann wird der Staat sogar 5 Mrd Euro einsparen.
Geht der von der deutschen Regierung diskutierte Kombilohn in eine vernünftige Richtung?
Ja. Dabei gibt es zwei Wege für den Kombilohn: Entweder erhalten die Unternehmen oder die Arbeitnehmer die Zuschüsse. Wir wollen die Arbeitnehmer direkt unterstützen. Nur so können Streuverluste vermieden werden. Konkret liefe diese Unterstützung über eine negative Einkommenssteuer. Damit hat man in anderen Ländern gute Erfahrungen gemacht.
Wie sind Sie grundsätzlich zufrieden mit der Regierung Merkel?
Aussenpolitisch sieht das ganz erfolgreich aus. In der Innenpolitik ist einiges auf den Weg gebracht worden. Man muss jetzt abwarten, wie sich das im Laufe des Jahres konkretisiert.
Wird die neue Regierung eine bessere Wirtschaftspolitik machen als die alte?
Erhoffen tue ich es, erwarten noch nicht. Da bin ich skeptisch. Doch ich lasse mich überraschen.
Dem Lehrbuch zufolge macht die Schweiz vieles richtig – flexibler Arbeitsmarkt, tiefe Steuern – und trotzdem ist die Wirtschaft in den letzten Jahren nur sehr schleppend gewachsen. Wo liegt das Problem?
Das Hauptproblem ist wie in Deutschland der umfangreiche Sozialstaat, der Lohnersatz bezahlt. Hier müssen die Anreize verbessert werden. Das Arbeiten sollte bezahlt werden, nicht das Nichtarbeiten. Dies erreicht man aber nicht dadurch, dass man Leuten, die keinen Job annehmen, Kürzungen des Arbeitslosengeldes androht. Wenn diese Leute zu arbeiten beginnen, verlieren sie ja heute das staatliche Geld in jedem Fall. Man muss ihnen das Geld lassen, wenn sie den Job annehmen.
Hans-Werner Sinn ist Ökonomieprofessor in München und Leiter des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Einem breiteren Publikum wurde er bekannt durch seine Bücher «Ist Deutschland noch zu retten?» und «Die Basar-Ökonomie». (for)