Es gibt keine Mehrheit für Reformen. Denn solche Reformen würden zunächst zu viele Verlierer mit sich bringen.
Von Hans-Werner Sinn
Vor einem Jahr befand sich Deutschlands charmante neue Kanzlerin Angela Merkel in der letzten Phase ihres Wahlkampfes. Gerhard Schröder lag in den öffentlichen Meinungsumfragen so weit hinter ihr, dass sie dachte, sie würde einen Erdrutschsieg genießen und könnte es sich erlauben, die Härten des in ihrem Wahlkampf beschriebenen liberalen Sparprogramms näher auszuführen. Doch die deutschen Wähler wussten ihre Ehrlichkeit nicht zu schätzen. Als sie den Juraprofessor Paul Kirchhof, Befürworter einer Pauschalsteuer für Deutschland, als ihren Kandidaten für das Amt des Finanzministers benannte, verwandelte sich Angela Merkels Wahlkampf in einen Albtraum. Sie büßte fast ihren gesamten Vorsprung ein und gewann am Ende mit einer hauchdünnen Mehrheit, die zu klein war, um die von ihr bevorzugte Koalition mit den Liberalen umzusetzen. Stattdessen musste sie eine Koalition mit Schröders Partei bilden, wenn auch ohne Schröder selbst.
Das erste Regierungsjahr Merkels wird bald vorüber sein. Im Hinblick auf internationale Beziehungen war es durchaus erfolgreich. Sie hat allerdings all jene enttäuscht, die gehofft hatten, sie würde Schröders Agenda für Wirtschaftsreformen weiterführen und sogar erweitern. Während ihr Parteiprogramm die Öffnung von Flächentarifverträgen, die Lockerung des Arbeitsplatzschutzes und insbesondere die Herbeiführung eines Wandels in der Anreizstruktur des Sozialsystems thematisiert, hat ihre Regierung zu diesen Fragen größtenteils geschwiegen. Sicher hat sie die Gesundheitsreform und eine Reform der Unternehmensbesteuerung auf die Agenda gesetzt, doch die bisher präsentierten Pläne lassen nicht auf einen großen Durchbruch schließen. Diese politische Stagnation ist von den Medien und vom einflussreichen Wirtschaftsrat, einer Unternehmervereinigung, die mit der CDU sympathisiert, stark kritisiert worden. Sogar Bundespräsident Horst Köhler erinnert die Regierung wiederholt an die Notwendigkeit, mit den Wirtschaftsreformen fortzufahren. Warum ist Angela Merkel nicht wagemutiger?
Die oberflächliche Antwort lautet, dass die Sozialdemokraten nicht bereit sind weiterzumachen. Aber wenn das die Erklärung ist, lautet die nächste Frage, warum die Sozialdemokraten nicht bereit sind, Schröders Reformkurs weiterzuführen. Die wirkliche Erklärung für Deutschlands politische Stagnation ist, dass es einfach keine Mehrheit für liberale Reformen gibt, denn solche Reformen würden zunächst zu viele Verlierer mit sich bringen. Deutschland ist ein Land mit einem umfassenden Sozialsystem, das 31 Prozent des BIP des Landes über den Regierungssektor für soziale Zwecke ausgibt. Nicht weniger als 41 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung leben in erster Linie von Regierungsleistungen wie staatliche Renten, volle öffentliche Stipendien, Arbeitslosenunterstützung, Invalidenrente und Sozialhilfe. Unter den Erwachsenen, die wählen, bilden die Empfänger öffentlicher Leistungen eine klare Mehrheit. 10 Prozent der oberen Einkommensbezieher zahlen mehr als 50 Prozent, und die oberen 20 Prozent mehr als 80 Prozent des gesamten Steueraufkommens, während 40 Prozent der Einkommensbezieher überhaupt keine Einkommensteuer entrichten. Kein Wunder also, dass eine riesige Mehrheit der Bevölkerung und sogar eine knappe Mehrheit der christdemokratischen Wähler eine Stärkung der sozialen Orientierung des Staates gegenüber einer stärkeren Orientierung am Markt bevorzugt. Die SPD hat diese Präferenzen auf die harte Tour kennen gelernt, als Schröders vorsichtige Reformen einen Aufstand in der Partei auslösten und seinen früheren Konkurrenten Oskar Lafontaine veranlassten, der SPD den Rücken zu kehren und eine neue Partei zu gründen. Lafontaine hält den linken Rand des Spektrums fest besetzt, während er den Traum des immerwährenden Sozialstaates träumt, der aus unbegrenzten Quellen schöpft. Nachdem die Linkspartei ein Bündnis mit der PDS geschlossen hat, sicherte sie sich eine feste Basis bei den Wählern und veränderte so das politische Gleichgewicht in Deutschland.
Viele Christdemokraten träumen vielleicht für die nächste Wahl von einer neuen Koalition mit den Liberalen und den Grünen. Die Parteispitze bereitet indes eine Neuorientierung in Richtung einer sozialeren Haltung vor, um größere Teile der Wählerschaft für sich zu gewinnen, und schiebt im Zuge dessen die notwendigen Reformen auf. Durch solche politischen Machenschaften verliert Deutschland allmählich seine Zukunft.
Hans-Werner Sinn ist Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München. Copyright: Project Syndicate, 2006