Während die meisten hoch entwickelten Länder der Welt zunehmend mit den Kräften der Globalisierung und der Konkurrenz durch Billiglohnländer zu kämpfen haben, scheinen die skandinavischen Länder, also Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden, diese Herausforderungen bisher recht gut zu bewältigen. Zwar ist das skandinavische Wachstum nicht berauschend. Mit einem durchschnittlichen jährlichen BIP-Wachstum von 2,2 Prozent in den Jahren 1995 bis 2005 lagen die skandinavischen Länder unter den anderen Ländern der alten EU, die im Schnitt um 2,8 Prozent wuchsen.
Doch wenn man die Niveaus betrachtet, können die skandinavischen Länder durchaus imponieren. Im Jahr 2005 lag das skandinavische BIP pro Kopf um 39 Prozent über den nicht skandinavischen Ländern der alten EU, und die durchschnittliche Arbeitslosenquote betrug nur 6,7 Prozent, während die anderen alten EU-Länder 8 Prozent verzeichneten. Was ist das Geheimnis für diesen Erfolg bei den Niveaugrößen?
Unter den möglichen Erklärungen sind Schwedens mutige Deregulierung auf den Produktmärkten, Dänemarks Einschränkungen beim ehemals großzügigen Lohnersatzsystem und Finnlands Nokia-Wunder zu nennen. Doch wenngleich diese Faktoren nicht zu leugnen sind, gibt es für die niedrige Arbeitslosenquote und das hohe BIP-Niveau pro Kopf eine deutlich einfachere Erklärung: den hohen Anteil der Staatsangestellten an der Erwerbsbevölkerung. Wenn Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft nicht länger wettbewerbsfähig sind, scheint eine staatliche Beschäftigung die einfachste Lösung zu sein, die Menschen in Arbeit zu halten.
Tatsächlich überrascht es, wie hoch der Staatsanteil an der Beschäftigung in Skandinavien ist. In Schweden liegt der Anteil der abhängig Beschäftigten, die beim Staat beschäftigt sind, bei 33,5 Prozent, und in Dänemark beträgt er 32,9 Prozent. Im Durchschnitt aller vier skandinavischen Länder beträgt der Anteil 32,7 Prozent, was viel mehr ist als der Durchschnitt der anderen Länder der alten EU, der bei lediglich 18,5 Prozent liegt. In Deutschland, Europas größter Volkswirtschaft, beträgt der Anteil des Staates an der abhängigen Beschäftigung gerade einmal 12,2 Prozent.
Der hohe Anteil der Staatsbeschäftigten trägt natürlich zur niedrigen Arbeitslosenquote bei. Aber nicht nur das: Er erklärt zudem ganz wesentlich die hohen Werte des BIP pro Kopf. Der einfache Grund hierfür ist, dass die durch die staatlichen Jobs geschaffene Wertschöpfung Teil des BIP ist, selbst wenn sie in der Marktwirtschaft nie hätte erzielt werden können. Nach den Regeln der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung wird der Beitrag des Staatssektors zum BIP in Ermangelung von Marktpreisen anhand der staatlich gezahlten Lohneinkommen errechnet, unabhängig davon, wie produktiv oder nützlich die betreffenden Tätigkeiten sind. Die gemessene Leistungsdifferenz im Vergleich etwa zu Deutschland kann man deshalb auch so karikieren: Während die Deutschen einen Teil der privat erzeugten Wertschöpfung in Form von Steuern abschöpfen und dann für die Arbeitslosenunterstützung ausgeben, geben die Skandinavier ihren Arbeitslosen zusätzlich einen Schreibtisch und zählen die Arbeitslosenunterstützung als vom Staatssektor erbrachte Wertschöpfung und damit als Beitrag zum BIP.
Abgesehen von diesem skandinavischen Buchhaltungstrick leistet der hohe Anteil des Staates an der Beschäftigung freilich auch einen echten Beitrag zur Lösung eines der grundlegendsten Probleme, vor denen die westlichen Volkswirtschaften heute stehen. Kapitalflüsse in die Niedriglohnländer, Spezialisierung, Outsourcing und auch die Einwanderung haben den Gleichgewichtspreis ungelernter Arbeit in der gesamten westlichen Welt fallen lassen. Doch zögern die Länder, den tatsächlichen Preis der menschlichen Arbeit entsprechend absinken zu lassen.
Zur Verteidigung der Einkommen der Geringqualifizierten (oder der weniger Motivierten) stehen vier Möglichkeiten zur Verfügung. Die beste ist, diese Menschen besser auszubilden, aber dies ist ein beschwerlicher und zeitaufwendiger Weg, der keine kurzfristige Lösung bietet. Kurz und mittelfristig gibt es nur die folgenden drei Möglichkeiten, den problematischen Verteilungstendenzen, die aus der Globalisierung resultieren, die Stirn zu bieten.
Die erste besteht darin, die Löhne der Geringqualifizierten durch gesetzlich vorgeschriebene Mindestlöhne oder durch die Zahlung von Lohnersatzeinkommen, die Mindestlohnansprüche erzeugen, zu verteidigen. Dies ist eine Strategie, für die sich die meisten EU-Staaten, insbesondere Deutschland, entschieden haben. Die Folge ist eine ineffiziente und kaum noch finanzierbare Massenarbeitslosigkeit. Die zweite Möglichkeit besteht darin, anstelle von Lohnersatzeinkommen Lohnzuschüsse zu zahlen, um die für Vollbeschäftigung nötige Lohnspreizung zu ermöglichen, ohne die Einkommen am unteren Rand der Lohnverteilung absacken zu lassen. Dies ist die Strategie, für die sich die Vereinigten Staaten mit ihren Steuergutschriften auf Arbeitseinkommen (Earned Income Tax Credit) entschieden haben. Auch der diesjährige Nobelpreisträger für Volkswirtschaftslehre, Edmund Phelps, ist ein langjähriger Befürworter einer solchen Vorgehensweise. Die dritte Möglichkeit ist der oben diskutierte skandinavische Weg, also die Mindestlöhne durch staatliche Jobangebote hoch zu halten.
Während viele Ökonomen die Strategie Deutschlands für die schlechteste und jene Amerikas für die beste halten, kann man der skandinavischen Lösung das Prädikat der Zweitbesten geben. In der Tat ist es besser, die Menschen öffentliche Parks reinigen und sich um Kinder und alte Leute kümmern zu lassen, als dass man sie wie in Deutschland nichts tun lässt. Obwohl auf diese Weise das BIP künstlich aufgebläht wird, wird doch Nützliches getan.
Dennoch dürfte es besser sein, dem Markt die Entscheidung zu überlassen, welche Art von Leistungen der geringer qualifizierte und weniger motivierte Teil der Erwerbsbevölkerung erbringen sollte, was für die amerikanische Methode der Lohnsubventionierung spricht. Der skandinavische Weg ist mehr als ein Taschenspielertrick, aber doch keine wirklich empfehlenswerte Strategie, den Herausforderungen der Globalisierung zu begegnen.
Der Autor ist Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München.
Project Syndicate, 2006. www.project-syndicate.org
Aus dem Englischen von Jan Neumann