Wie sich die Euro-Milliardenverluste errechnen

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.07.1997, S. 8

Zum Brief von Leser Dr. Arwed Max von Poser "Die Kosten des Euro sind Teil eines Darlehens" (F.A.Z. vom 4. Juli): Der Einsender der Zuschrift scheint Probleme zu haben, das Wesen der Geldschöpfung zu verstehen. Der Wertpapierbestand, den die Bundesbank im Austausch für das von ihr geschaffene Geld angehäuft hat, ist ein echtes Nettovermögen. Buchhalterisch ist diesem Bestand zwar die Geldmenge als Passivposten entgegenzustellen, und es stimmt auch, daß die Bundesbank die Wertpapiere wieder hergeben muß, wenn der private Sektor die Geldmenge zurückzahlt. Ökonomisch ist die Geldmenge aber kein echtes Passivum, denn bei normaler Wirtschaftsentwicklung wird das Geld niemals zurückgezahlt, und vor allem wird es ja von der Bundesbank auch nicht verzinst.

Von den Zinseinnahmen, die der Wertpapierbestand der Bundesbank bringt, werden wir in der Währungsunion einen großen Teil verlieren, weil wir mehr in den gemeinsamen Topf der Europäischen Währungsunion einzahlen, als wir zurückerhalten. Es ist gerade so, als würden wir einen Teil des heute vorhandenen Wertpapierschatzes der Bundesbank mit dem Beginn der Währungsunion an andere Mitgliedsländer übertragen. Der deutsche Verlust beträgt etwa 60 Milliarden Mark, wenn alle Länder mitmachen, und etwa 50 Milliarden Mark, wenn England, Schweden, Dänemark und Griechenland draußen bleiben. Die Fünfjahresperiode, die im Vertrag genannt wird, ändert an diesen Beträgen nichts. Nur der Zeitpunkt, zu dem wir sie abtreten, wird etwas hinausgeschoben, was, zugegeben, einen kleinen Zinsnachlaß bedeutet.

Es ist nicht grundsätzlich falsch, wenn man den Umstellungsverlust in Jahresbeträgen ausdrückt. Dabei mag nach der fünfjährigen Übergangsfrist ein Betrag von etwa drei Milliarden Mark herauskommen. Die Rechnung ist aber zwangsläufig spekulativ, weil nicht klar ist, welche Wertpapiere in die Umverteilungsrechnung einzubringen sind und welcher Zins dabei anzuwenden ist. Nur die Wertpapiersumme ist eindeutig durch den Vertragstext spezifiziert. Bei einem Zinssatz von fünf Prozent wären meine Aussage, daß wir mit dem Eintritt in die Währungsunion den Anspruch auf Wertpapiere im Umfang von 60 Milliarden Mark verlieren, und Leser Dr. von Posers Aussage, daß wir drei Milliarden Mark pro Jahr verlieren, inhaltlich völlig identisch. Bei einem Zinssatz von sieben Prozent würden wir 4,2 Milliarden Mark pro Jahr verlieren.

Die Behauptung, die Rechnungen meines Instituts seien übertrieben, weil die D-Mark-Geldmenge durch die Öffnung des Ostblocks nur temporär überhöht sei, weise ich zurück, denn die Erwartung einer fallenden Geldmenge ist völlig abwegig. In den Jahren vor der deutschen Vereinigung stieg die deutsche Geldmenge um 4,4 Prozent pro Jahr. In der Zeit danach stieg sie nur um durchschnittlich 3,6 Prozent pro Jahr. Offenkundig ist die Beliebtheit der D-Mark nicht auf einen vergänglichen Nachfrageeffekt in Osteuropa, sondern auf einen fundamentalen Vertrauensvorsprung in der ganzen Welt zurückzuführen, der schon vor dem Fall des Eisernen Vorhangs zu einem kräftigen Wachstum der D-Mark-Nachfrage geführt hat. Um zu niedrigeren Schätzwerten als den von uns berechneten zu gelangen, müßte man schon unterstellen, daß die deutsche Vereinigung eines Tages wieder rückgängig gemacht wird.

Unsere Schätzwerte sind nicht zu hoch, sondern eher zu niedrig. Auf lange Sicht ist zu erwarten, daß der deutsche Bevölkerungsanteil an der Europäischen Union abnehmen wird, denn unsere Geburtenrate ist eine der niedrigsten in ganz Europa. Die Abnahme des Bevölkerungsanteils wird nach den Regeln des Maastrichter Vertrages auf die Dauer zu einer Abnahme des Anteils der nach Deutschland zurückfließenden Zinsen führen. Diesen Effekt haben wir vernachlässigt, um mit den Berechnungen "auf der sicheren Seite" zu bleiben. Wir untertreiben auch insofern, als wir das weitere Wachstum der europäischen Geldmenge, das wegen der Inflation und des Wirtschaftswachstums mit hoher Sicherheit zu erwarten ist, nicht berücksichtigen. Professor Dr. Ekkehard Wenger hat in seinem Brief "Nicht 90, sondern 150 Milliarden Verlust durch den Euro" (F.A.Z. vom 21. Juni) schon recht, wenn er darauf verweist, daß der von uns geschätzte Verlust bei einem Wachstum der Geldmenge von vier Prozent und einem Zinssatz von sieben Prozent um vier Siebtel nach oben hin korrigiert werden müßte. Diese Korrektur haben wir aus Vorsichtsgründen und wegen eines grundsätzlichen Werturteils aber nicht vorgenommen.

Das Werturteil unterscheidet zwischen einer vertretbaren und einer nicht vertretbaren Vermögensübertragung. Es ist vertretbar, daß die zukünftigen Vermögenserhöhungen der Europäischen Zentralbank nach den Sozialprodukt- und Bevölkerungsanteilen verteilt werden. Diese Vermögenserhöhungen sind nicht das Ergebnis der Geldpolitik eines einzelnen Landes, sondern der Lohn für die gemeinsame Anstrengung aller europäischen Länder, aus dem Euro eine attraktive und stabile Währung zu machen. Es ist aber nicht vertretbar, daß der in den fünfzig Jahren der bisherigen Existenz der Bundesbank akkumulierte Wertpapierschatz sozialisiert wird, denn diesen Schatz hat unser Land durch eigene Anstrengungen verdient. Nur den bei dieser Sozialisierung entstehenden Vermögensverlust wollten wir berechnen.

Alles in allem freue ich mich sehr über die nun beginnende Diskussion zu dem Thema, denn ich hoffe, es kommt endlich Bewegung in die Sache. Vielleicht gelingt es der Bundesbank ja doch noch, durch Neuverhandlungen einen Teil der Verluste zu vermeiden. Wäre es nicht eine gute Idee, wenn der Zentralbankrat beschlösse, den deutschen Universitäten ein Prozent von jeder Milliarde zu überweisen, die die Bundesbank den Vertragspartnern unter Hinweis auf unsere Berechnungen wieder entwinden kann?

Professor Dr. Hans-Werner Sinn,
München