Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn hält trotz des Aufschwungs an seiner Standortskepsis fest
Trotz des momentanen Konjunkturoptimismus hält Ifo- Präsident Hans-Werner Sinn die Probleme des Standorts Deutschland für unvermindert groß. "Worüber jetzt alle jubeln, hat wenig mit strukturellem Wandel zu tun", sagte Sinn im Gespräch mit der FTD. "Was wir sehen, ist ein gewöhnlicher zyklischer Aufschwung; er sagt nichts darüber, ob Deutschland es nach 2010 schafft, auf einen dynamischeren Wachstumspfad zu gelangen."
Erfahrungsgemäß dauerten die Konjunktur- und Investitionszyklen in Deutschland jeweils rund zehn Jahre. Derzeit befinde sich Deutschland in einer Aufschwungphase, wie sie seit den 70er-Jahren jeweils in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts stattgefunden habe. Das Potenzialwachstum betrage nach wie vor lediglich gut 1,2 Prozent.
Damit versucht Ifo-Präsident Sinn, die aufkeimende Zuversicht über die Aussichten der deutschen Wirtschaft zu dämpfen. Einige Ökonomen, zuletzt das Institut der deutschen Wirtschaft, hatten die längerfristigen Wachstumsmöglichkeiten, das Potenzialwachstum, nach oben gesetzt. Sinn betonte nun, dass er dazu keinen Anlass sehe: "Erst wenn die nächste Flaute weniger tief wird und die Arbeitslosigkeit dann etwas weniger stark steigt, können wir davon sprechen, dass sich in Deutschland etwas Grundlegendes . verändert hat." Jetzt aber sei es viel zu früh für eine solche Einschätzung.
Sinn hält den konjunkturellen Aufschwung jedoch für sehr stark und glaubt, dass er in die nächsten Jahre hineinwirkt. Er verwies darauf, dass das Ifo-Institut vor einem Jahr den Aufschwung bereits früh vorher gesehen habe. Ende 2005 prognostizierte das Institut ein Wachstum von 1,7 Prozent, deutlich mehr als die anderen Institute. Im Frühjahr schrieb es bei der Gemeinschaftsdiagnose sogar ein Minderheitsvotum, um seine hohe Wachstumsschätzung von ebenfalls 1,7 Prozent für 2007 zu verteidigen, einen Wert, den es in der vergangenen Woche auf 1,9 Prozent erhöht hat. Für 2008 nehmen die Münchner gar 2,3 Prozent an. Sinn sagte, mit etwas Glück könne im Jahr 2008 dann sogar die Arbeitslosenzahl temporär unter die Vier-Millionen-Grenze fallen. Es sei aber noch nicht absehbar, dass in diesem Aufschwung die Arbeitslosigkeit unter den Tiefpunkt des letzten Booms im Jahr 2000 fallen werde, wo sie im Jahresmittel bei 3,89 Millionen lag. Allein von 1995 bis 2005 sind in Deutschland über 1,36 Millionen vollzeitäquivalente Jobs vernichtet worden, davon 1,21 Millionen im verarbeitenden Gewerbe und 150000 im Rest der Wirtschaft. Zwar sei dieser Abbau von Arbeitsplätzen in der Industrie in den meisten westlichen Volkswirtschaften zu beobachten. Aber vor allem in den USA seien viel mehr neue Jobs im Dienstleistungssektor entstanden als in Deutschland. Nach Sinns Beobachtung hat der konjunkturelle Jobzuwachs das verarbeitende Gewerbe nur mit erheblicher Verzögerung erreicht.
An seiner Hauptthese, dass die Löhne in Deutschland nach wie vor zu hoch sind, hält Sinn fest. "Auch einige Jahre der Mäßigung haben wenig an dem extrem hohen Lohnniveau der deutschen Industriearbeiter geändert. Wir haben die dritthöchsten Stundenlohnkosten für Industriearbeiter in der OECD."
Für größere beschäftigungsneutrale Lohnsteigerungen sieht Sinn daher auch wenig Spielraum. Für nächstes Jahr sei höchstens ein Anstieg von 2,2 Prozent möglich. "Eigentlich müssten wir noch weitere Jahre auf größere Lohnerhöhungen verzichten, wenn wir die Arbeitslosigkeit nachhaltig abbauen wollen", sagte Sinn.
Seiner Ansicht nach werden die Spannungen in der Gesellschaft, die Ungleichheit zwischen Arm und Reich, aber auch zwischen dem Durchschnitt und den unteren Schichten dramatisch zunehmen. "Das sind die Kräfte der Globalisierung. Wir stehen hier erst am Anfang einer Entwicklung."