Hans-Werner Sinn über Strukturwandel und EZB–Geldpolitik
Fast spurlos ist der Aufschwung der Weltwirtschaft im Jahr 2004 an Deutschland vorbei gegangen, und nun beruhigt sich die Konjunktur schon wieder. Der ifo World Economic Survey, der durch ein Befragung von 1200 Experten in 90 Ländern gewonnen wird, weist auch im zweiten Quartal dieses Jahres erneut nach unten. Besonders betroffen ist Westeuropa. In keiner Großregion läuft die Konjunktur derzeit so schlecht wie hier.
Die europäische Zentralbank (EZB) sollte die Zügel lockern. Mit einem Zins von zwei Prozent, der schon seit Mitte des Jahres 2003 gilt, liegt sie zu hoch. Was im Boom der Weltwirtschaft richtig war, kann nicht zugleich für die Flaute passen.
Sicher: die Preisstabilität! Aber darum kann man sich auch zuviel sorgen. Viel Inflation ist schlecht, wie wir Deutschen nur zu gut wissen. Aber ein bisschen Inflation ist gut. Es ist wie mit dem Salz. Zu viel davon schadet, aber ganz ohne Salz schmeckt die Suppe auch nicht.
Europa befindet sich in einer Umbruchphase größeren Ausmaßes, in der es mit der Globalisierung, der Osterweiterung, der deutschen Vereinigung, dem Binnenmarkt und der Zinskonvergenz fertig werden muss, die der Euro gebracht hat. Ein gigantischer Strukturwandel muss bewältigt werden.
Der Strukturwandel kann nur dann effizient bewältigt werden, wenn sich zuvor die Struktur der Preise und Löhne flexibel an die neuen Gegebenheiten anpasst. Preise und Löhne sind die Lenkungsinstrumente der Marktwirtschaft. Nur wenn sie sich frei in alle Richtungen bewegen können, wird Europa den Strukturwandel schaffen.
Aber auch die Preis- und Lohnanpassungen selbst sind für die Betroffenen nicht einfach. Am schwierigsten ist die Anpassung der Lohnstruktur der reicheren Länder. Davon kann Deutschland ein Lied singen. Deutschland leidet unter einer Massenarbeitslosigkeit seiner einfachen Arbeiter. Einfache Arbeit ist spätestens seit der neuen Wettbewerbslage, die mit der Beteiligung der ex-kommunistischen Länder am Welthandel entstanden ist, zu teuer.
Ließen sich die Löhne und Preise in Deutschland senken, so ließe sich auch die Massenarbeitslosigkeit reduzieren. Eine allgemeine Deflation, deren Ausnahmen der Markt selbst definiert, hülfe. Ihr stehen aber erhebliche psychologische und institutionelle Hemmnisse entgegen. Diese Hemmnisse liegen zum Beispiel in dem schon von Keynes betonten Widerstand gegen eine Verschlechterung der relativen Verteilungsposition bei der einzelwirtschaftlichen Änderung von Lohnkontrakten und Preislisten. Vor allem liegen sie in den nominal fixierten Lohnersatzleistungen des Sozialstaates, die als starre Lohnuntergrenzen jegliche Anpassung der Löhne für einfache Arbeit verhindern. Die Hemmnisse lenken den Deflationsdruck von den Löhnen in die reale Wirtschaft um und führen zu einer Massenarbeitslosigkeit.
Ohne den Euro hätte man die notwendige Lohnanpassung auf dem Wege über eine Abwertung der D-Mark herbeiführen können. Dadurch hätten die deutschen Industriearbeiter wettbewerbsfähiger werden können, und die exzessiven Tendenzen zum Outsourcing und zur Kapitalintensivierung der Produktion, die die Massenarbeitslosigkeit hervorbringen, hätten sich abbremsen lassen.
Doch hat der Euro diesen Weg innerhalb des Euroraumes verbaut. Was bleibt, ist die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Arbeiter auf dem Wege des Zurückbleibens der deutschen Inflationsrate hinter der Inflationsrate der anderen europäischen Länder. Ökonomen nennen dies eine reale Abwertung.
Deutschland geht den Weg der realen Abwertung schon des Längeren. Seit der virtuellen Einführung des Euro im Jahr 1999 betrug die durchschnittliche Inflationsrate der Euro-Länder 2,0% pro Jahr, doch wir lagen bei nur 1,4%. Das war der niedrigste Wert aller Euro-Länder. Das Nachhinken bei der Inflation hilft Deutschland. Aber es ist mühsam, und es kostet mehr Zeit, als wir haben.
Eine lockerere Geldpolitik der EZB würde alles leichter machen. Entschlösse sich die EZB, die von ihr tolerierte durchschnittliche Inflationsrate für die Euro-Länder von 2% auf 2,5% oder vielleicht sogar 3% heraufzusetzen und die Zinspolitik entsprechend zu ändern, so fiele uns die reale Abwertung leichter. Die Spreizung der Inflationsraten zwischen den anderen Euroländern und Deutschland wäre größer, und wir kämen früher auf den grünen Zweig. Die Massenarbeitslosigkeit und das schleichendes Siechtum, das Deutschland derzeit erlebt, könnten wir eher überwinden.
Die europäischen Inflationsraten unterscheiden sich aus sehr natürlichen Gründen. Länder, die bei der realen Entwicklung noch zurück liegen, haben niedrige Löhne und folglich niedrige Preise für die lokalen Dienstleistungen. Auch das durchschnittliche Preisniveau ist deshalb dort niedriger. Im Zuge der realen Konvergenz der europäischen Länder müssen sich auch die Preisniveaus aneinander annähern. Das impliziert notwendigerweise höhere Inflationsraten in jenen Ländern, in denen die Löhne heute noch niedrig sind und die deshalb schneller wachsen. Kein Wunder, dass Portugal seit 1999 eine durchschnittliche jährliche Inflationsrate von 3,1% und Irland, Europas keltischer Tiger, gar eine solche von 3,8% hatte.
Die EZB unter ihrem Präsidenten Jean-Claude Trichet sollte sich gegen die Aufholinflation dieser Länder nicht sträuben. Die Aufholinflation ist weder ein Grund für Besorgnis noch sollte sie Anlass zu einer restriktiven Geldpolitik geben, die in Deutschland Deflationsdruck erzeugt. Die Wirtschaft der Euroländer braucht mehr Investitionen. Geben sie Gas, Monsieur Trichet!