Im Januar wurde die Europäische Union wiederum nach Osten erweitert. Nach der großen Erweiterungsrunde des Jahres 2004, die der EU 75 Millionen neue Bürger zuführte, kamen mit dem Beitritt von Rumänien und Bulgarien nun abermals 30 Millionen hinzu. Was bedeutet dies für die Arbeitsmärkte Westeuropas? Politiker neigen zu optimistischen Erwartungen. Zwar würden einige Klempner aus Polen den deutschen Klempnern Konkurrenz machen, und einige Firmen des verarbeitenden Gewerbes würden ihre Produktionsstätten gen Osten verlagern. Dominant sei aber die Schaffung neuer Märkte im Osten. Die Steigerung der deutschen Exporte in die Ostländer werde mehr neue Arbeitsplätze schaffen, als an anderer Stelle verloren gingen. Wie belastbar ist dieses Argument?
Um zu verstehen, was wirklich geschieht, muss man die Lohndifferenzen in den Blick nehmen. Die Erweiterung hat Westeuropa nämlich eine extreme Niedriglohnkonkurrenz gebracht. Während ein Industriearbeiter in der alten EU pro Stunde im Schnitt 26,09 Euro verdient, beträgt der durchschnittliche Stundenlohn in Rumänien 1,60 Euro und in Bulgarien gerade mal 1,39 Euro.
Arbeitsplätze im Westen kann die Osterweiterung nur schaffen, wenn die osteuropäischen Niedriglöhner Komplemente westeuropäischer Arbeitnehmer sind und deshalb die Nachfrage nach diesen Arbeitnehmern ankurbeln. Teilweise ist das tatsächlich der Fall. Westeuropäische Ingenieure werden gebraucht, um Weltklasseprodukte zu entwerfen, die von osteuropäischen Arbeitnehmern gefertigt werden. Und wer sich zum Manager eignet, kann sicher sein, dass seine Fähigkeiten bei der Integration der vielen osteuropäischen Arbeitnehmer in die europäische Wirtschaft benötigt werden.
Aber für die große Mehrheit derer, die nur ihre normale Arbeitsleistung anzubieten haben, sind die osteuropäischen Arbeitskräfte keine Komplemente, sondern Substitute. Sie sehen sich einer Niedriglohnkonkurrenz von Menschen mit ähnlichen Fähigkeiten und Ambitionen gegenüber und geraten folglich durch die Erweiterung ins Hintertreffen. Empirischen Studien zufolge reicht die Gruppe der Verlierer von den gering Qualifizierten bis zu den Facharbeitern.
Die Implikationen für den Arbeitsmarkt liegen auf der Hand: Die Osterweiterung wird zwar die Nachfrage nach hoch qualifizierten Westeuropäern erhöhen. Doch für die Masse der westeuropäischen Erwerbsbevölkerung sinkt die Nachfrage. Aufgrund der bekannten Asymmetrie in der Lohnflexibilität wird dies unter dem Strich zu einem Beschäftigungsrückgang führen: Da die Arbeitslosigkeit unter den höher Qualifizierten gering ist, wird die Mehrnachfrage nach ihren Leistungen eher in Lohnerhöhungen als in einer Zunahme der Beschäftigung münden. Bei den weniger gut Qualifizierten ist indes eine Abnahme der Beschäftigung unausweichlich, da der Spielraum für Lohnsenkungen durch Tariflöhne und durch die Mindestlohnschranke begrenzt ist, die der Sozialstaat mit seinen Lohnersatzleistungen sowie durch gesetzliche Mindestlöhne setzt. Lohnstarrheit nach unten gepaart mit der Substitutionalität zwischen der Mehrheit der westeuropäischen Arbeitnehmer und den Osteuropäern impliziert, dass die Osterweiterung per Saldo zu einem Arbeitsplatzverlust in Westeuropa führt, wenn das institutionelle Umfeld des Arbeitsmarktes so bleibt, wie es ist.
Natürlich führt die Osterweiterung zu einem Anstieg der westeuropäischen Exporte, weil der größere Handelsraum neue Möglichkeiten für die Spezialisierung der Länder Europas eröffnet. Doch wenn die Exporte steigen, müssen die Produktionsfaktoren – nämlich Kapital, qualifizierte Arbeitskräfte und einfache Arbeitskräfte – aus anderen Sektoren der Wirtschaft abgezogen werden. Da Exportgüter wesentlich kapital- und wissensintensiver produziert werden als andere Güter, führt dies per saldo zu einem Rückgang der Nachfrage nach einfacher Arbeit. Die Talente und das Kapital, die in Exportsektoren wandern, können dort nicht alle einfachen Arbeiter mitnehmen, weil diese Sektoren relativ zum Einsatz von Kapital und Wissen nicht so viele von diesen Arbeitern benötigen. Zu den schrumpfenden Sektoren gehören die arbeitsintensiven Vorstufen der Industrieproduktion, aus denen die Arbeitsplätze auf dem Wege des Outsourcing in andere Länder abwandern – ein Phänomen, das weder für Kunden erkenntlich noch in der Direktinvestitionsstatistik erfasst ist.
Oftmals konzediert man zwar, dass Arbeitsplätze durch ausländische Direktinvestitionen verloren gehen können. Von größerer Bedeutung sind jedoch Finanzkapitalexporte, also Kreditmittel, die es ausländischen Firmen ermöglichen, Arbeitsplätze im eigenen Land zu schaffen. So hatte Deutschland im Jahr 2006 einen Kapitalexport im Wert von 108 Milliarden Euro, von dem lediglich 25 Milliarden auf Direktinvestitionen entfielen. Ein Teil dieses Kapitalexports floss in die neuen osteuropäischen EU-Mitgliedsländer, die, relativ zu ihrer Größe, riesige Kapitalimporte realisierten.
In Anbetracht all dieser Faktoren kann man ausschließen, dass die EU-Osterweiterung per saldo Arbeitsplätze in Westeuropa schafft. Die Löhne Westeuropas sind viel zu starr, als dass ein solch optimistisches Ergebnis möglich ist.
Hans-Werner Sinn ist Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Universität München und Präsident des ifo Instituts.
Project Syndicate, 2007. www.project-syndicate.org