Der Präsident des Münchner Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, über kurzlebige Prognosen, niedrige Löhne und die Dauer des Aufschwungs
FOCUS: Die Deutschen staunen über das stabile Wachstum. Wirtschaftsforscher müssen laufend ihre Prognosen erhöhen. Warum kommt der Boom für viele so überraschend?
Sinn: Weil sie dem Ifo-Geschäftsklima-Index nicht geglaubt haben. Der befindet sich schon seit dem Herbst 2005 auf einem Höhenflug. Das Ifo-Institut war schon lange optimistisch. Bei unserer Pressekonferenz im Dezember 2005 habe ich den Aufschwung ausgerufen, weil zum starken Export endlich eine starke Investitionsgüternachfrage hinzutrat. Die Zunft ist uns nicht gefolgt. Bei der Gemeinschaftsprognose im Frühjahr 2006 mussten wir ein Minderheitsvotum abgeben. Erst als das Statistische Bundesamt seine Quartalszahlen im August 2005 im Nachhinein nach oben revidierte, fand unser Optimismus mehr Anhänger. Viele Prognosen waren aber noch im letzten Herbst recht pessimistisch.
FOCUS: Ist es nicht problematisch, dass die Prognosen immer wieder revidiert werden?
Sinn: Nein. Wenn Sie mit dem Auto fahren, drehen Sie auch permanent am Steuer, weil sie neue Informationen über den Straßenverlauf erhalten. Die Institute bekommen laufend neue Wirtschaftsdaten und müssen nachjustieren. Es gibt allerdings auch eine Tendenz der Prognostiker, sich nicht allzu weit voneinander zu entfernen nach dem Motto: Wenn man schon falsch liegt, dann möchte man mit seiner Einschätzung wenigstens nicht allein dastehen. Dennoch hegen die Prognosen selten um mehr als ein Prozent falsch. Zeigen Sie mir eine Wetterprognose, die das auch nur annähernd schafft.
FOCUS: Das Ifo-Institut erwartet für dieses Jahr 1,9 Prozent Wachstum und schätzt damit im Vergleich zu anderen eher vorsichtig. Wann erleben wir den Höhepunkt des Booms?
Sinn: Das wird in der Gemeinschaftsdiagnose gerade ermittelt. Da eine Sperrfrist gilt, kann ich dazu nicht mehr sagen. Ifo hat aber stets betont, dass es Deutschland in einem lang anhaltenden Aufschwung sieht, dessen Gipfel bei der Wachstumsrate letztes Jahr zwar schon erreicht wurde, der aber bis ins nächste Jahr und darüber hinaus reichen dürfte. Auch hatten wir für 2008 einen Wert von 2,3 Prozent prognostiziert und für 2007 eine Revision der Wachstumsprognose auf über zwei Prozent angekündigt.
FOCUS: Warum sinkt die Zahl der Arbeitslosen erst jetzt so deutlich, wenn wir den Gipfel des Booms schon erreicht haben?
Sinn: Während eines Aufschwungs belebt sich der Arbeitsmarkt immer zuletzt. Wir hatten im Februar 570000 mehr Menschen in Arbeit und Brot als noch vor einem Jahr. Das ist ein extrem starker Zuwachs. Wir sind aber noch lange nicht wieder da, wo wir im letzten Boom waren. Im Januar fehlten bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung im Vergleich zum Januar des Jahres 2002, als der letzte Aufschwung gerade zu Ende war, immer noch 1,1 Millionen Stellen.
FOCUS: Haben deshalb so viele Menschen das Gefühl, dass der Aufschwung bei ihnen noch gar nicht richtig angekommen ist?
Sinn: Ja. Die Belebung am Arbeitsmarkt läuft zu einem großen Teil über Zeitarbeit. Langzeitarbeitslose profitieren kaum, und trotz des Aufschwungs sank im verarbeitenden Gewerbe und im Handwerk die Beschäftigung. Die Zuwächse gab es praktisch ausschließlich bei den Dienstleistungen.
FOCUS: Wird der Aufschwung die Probleme Deutschlands noch lösen?
Sinn: Man darf den jetzigen Konjunkturaufschwung nicht mit einer strukturellen Wende gleichsetzen. Boom und Abschwung wechseln sich mit schöner Regelmäßigkeit ab: Alle fünf Jahre ändert sich die Richtung. Wenn nichts Grundlegendes in Deutschland passiert, haben wir beim nächsten Abschwung so viele Arbeitslose wie zuvor. Wir brauchen strukturelle Reformen für den Arbeitsmarkt. Deutschlands Industriearbeiter haben relativ zur gesamtwirtschaftlichen Produktivität die höchsten Stundenlohnkosten auf der Welt. Daher produzieren Unternehmen hier vor allem mit hochkomplexen Maschinen und hochkarätigen Fachkräften wie Ingenieuren. Einfache Arbeiten aber fallen immer mehr weg.
FOCUS: Diese einfachen Aufgaben können wir doch kaum aus Billiglohnländern in Asien oder Osteuropa zurückholen.
Sinn: Zurückholen nicht. Aber wir können den Abbau verlangsamen und anderswo neue Stellen schaffen. Ob das geschieht, hängt von unseren Lohnstrukturen ab. Wir müssen einen Niedriglohnsektor aufbauen. Dann könnten in der Dienstleistungsbranche noch mehr Stellen entstehen. Der haushaltsnahe Bereich kann Jobs in Hülle und Fülle schaffen. Bei niedrigeren Löhnen brauchten wir auch im verarbeitenden Gewerbe weniger Stellen abzubauen, als wir es derzeit noch tun. Die Finnen haben Hilfsarbeiter in Massen wegrationalisiert und durch Maschinen ersetzt.
FOCUS: Wie wollen Sie die Löhne denn drücken?
Sinn: Nicht ich will die Löhne drücken, sondern der Markt. Wer sich gegen den Markt stemmt, erzeugt nur Arbeitslosigkeit. Wenn wir den Niedriglohnsektor nicht mehr behindern, können wir zur Vollbeschäftigung zurückkehren. Und die Einkommen lassen sich trotzdem absichern. Man kann zwar die Löhne nicht verteidigen, aber man kann Mindesteinkommen sichern, indem persönliche Lohnzuschüsse gezahlt werden. Hartz IV sollte zu einem Zuschusssystem umgestaltet werden, das den Lebensstandard der gering Qualifizierten bei der Arbeit statt in der Arbeitslosigkeit absichert.
FOCUS: Wo sollen denn die zusätzlichen Jobs für die Arbeitslosen herkommen?
Sinn: Bei niedrigeren Lohnansprüchen gibt es mehr Jobs, weil Arbeitgeber sich höhere Gewinne versprechen, wenn sie sie schaffen. Weniger Kapital wird exportiert, weniger Stellen werden nach Osteuropa verlagert, und vor allem können sich die arbeitsintensiven Binnensektoren wieder entwickeln. Wenn dennoch nicht genug private Jobs zu Stande kommen, müssen die Kommunen einspringen. Nach dem Ifo-Modell der Aktivierenden Sozialhilfe wird das jetzige Arbeitslosengeld II zu einem Lohn für eine Vollzeitbeschäftigung bei der Kommune. Wer diese Arbeit ablehnt, weil er privat unterkommt, erhält einen erheblichen Teil des Alg II als Zuschuss. Er kann dann schon mit einer Halbtagstätigkeit so viel verdienen wie ganztags bei der Kommune. Und wer noch länger privat arbeitet, kriegt deutlich mehr als heute ein Hartz-IV-Empfänger.
FOCUS: Statt auf Niedriglohn setzen die Gewerkschaften aber eher auf einen deutlichen Tarifnachschlag. Sie argumentieren, die Arbeitnehmer müssten mehr verdienen, damit sie mehr Geld ausgeben und die Konjunktur richtig in Gang setzen können.
Sinn: Der jetzige Boom beweist, dass das falsch ist. Wir haben einen wunderschönen Aufschwung, ohne dass die Konsumausgaben signifikant gestiegen sind. Die Binnennachfrage besteht ja nicht nur aus dem Kauf von Konsumgütern, sondern auch aus Aufträgen für Investitionsgüter wie Maschinen. Investitionen sind die bessere Binnennachfrage. Sie beleben das Geschäft der Investitionsgüter-Hersteller genauso wie Konsumgüterkäufe bei den Produzenten der Konsumgüter für mehr Umsatz sorgen. Zusätzlich erzeugen sie aber neue Jobs bei den Investoren selbst und erhöhen dort die Produktionskapazität. Das ist die wirkliche Quelle des Wachstums. Überzogene Lohnforderungen bringen sie zum Versiegen.
FOCUS: Sollte der Staat dann nicht die unverhofft hohen Steuereinnahmen verwenden, um die Lohnnebenkosten zu senken?
Sinn: Das halte ich im Gegensatz zu vielen Verbands- und Firmenvertretern nicht für vordringlich, weil die deutschen Lohnnebenkosten im europäischen Vergleich gering sind. Der Abbau der Lohnnebenkosten ist extrem teuer und bringt wenig. Denken Sie nur an die Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung Anfang des Jahres. Das hat die Arbeitskosten der Industriearbeiter, die bei knapp 30 Euro liegen, gerade einmal um 30 Cent verringert. Da kommt kein nennenswerter Effekt auf dem Arbeitsmarkt heraus.