Paare ohne Nachwuchs dürfen nicht länger bevorzugt werden: Ein Plädoyer für Familienförderung / Von Hans-Werner Sinn
Deutschland hat die Rentenversicherung erfunden und steht in der OECD- Statistik der Geburten pro tausend Einwohner an letzter Stelle. Diese Koinzidenz ist kein Zufall. Während viele der Gründe für Kinderarmut auch in anderen Ländern gelten, hat in Deutschland die Rentenversicherung die Bedeutung der Kinder für die Altersvorsorge früher aus dem Bewußtsein der Menschen ausgeblendet als andernorts. Kein junges Paar denkt heute noch an seine Versorgung im Alter, wenn es sich für Kinder entscheidet.
Die drei klassischen Motive für Kinder sind Sex, Kinderliebe und Alterssicherung. Die Medizin hat den Sex abgekoppelt, Bismarck die Alterssicherung. Nur noch die Kinderliebe blieb übrig, aber offenkundig reicht sie nicht aus, die für den Erhalt der Bevölkerung und die Sicherung der Renten hinreichende Kinderzahl zu gewährleisten.
Bismarck hat die Lebensplanungen und das Wertesystem der Deutschen so nachhaltig verändert, weil er die ökonomischen Erträge der Erziehungsleistung sozialisiert hat. Vor Bismarck war klar, daß man Kinder brauchte, um im Alter auskömmlich leben zu können. Nach Bismarck funktionierte das Leben auch ohne Kinder. Die Tante und der Onkel, die keine Kinder hatten, kamen im Alter gut zurecht, und ihr Lebensstil fand von Generation zu Generation immer mehr Nachahmer. Heute wird die Dink-Familie als attraktives Lebensmodell angesehen: "Double income, no kids". Mit zwei Einkommen für zwei Personen lebt es sich besser als mit einem für fünf.
Man kann die Rentenversicherung als Versicherung gegen Kinderlosigkeit rechtfertigen. Wenn alle Menschen gleich viele Kinder hätten, brauchte man diese Versicherung eigentlich nicht, denn jeder könnte seine Rente von den eigenen Kindern beziehen. Doch einige Menschen können keine Kinder bekommen, und auch sie sollen im Alter nicht hungern. Also erlaubt man ihnen den Zugriff auf die Kinder anderer Leute. Das ist ein im Grundsatz sinnvoller Gesellschaftsvertrag.
Das Problem ist nur, daß die Rentenversicherung einen Vollkaskoschutz gegen Kinderlosigkeit bietet, der auch eine Vollkaskomentalität erzeugt. Immer mehr Deutsche entscheiden sich im heutigen Rentensystem für das Trittbrettfahren. Die Rentenversicherung hat die Krise, unter der sie leidet, selbst mit herbeigeführt. Wegen der fehlenden Kinder müssen in Deutschland schon in dreißig Jahren doppelt so viele Rentner pro Beitragszahler ernährt werden wie heute.
Die Riester-Rente ist eine prinzipiell sinnvolle Reaktion zur Linderung der absehbaren Verteilungsprobleme zwischen den Generationen. In dem Maße, wie heute gespart wird, stehen später mehr Mittel für den Lebensunterhalt der Rentner zur Verfügung. Die richtige Devise, die der wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft ausgab, als er die Riester-Rente entwarf, lautet: Was an Humankapital fehlt, muß durch Realkapital ersetzt werden, denn eine Gesellschaft, die weder Kinder kriegt noch spart, muß im Alter hungern. Von nichts kommt nun mal nichts.
Die Riester-Rente leidet jedoch unter einem Konstruktionsfehler. Sie setzt keine Anreize, sich wieder für Kinder zu entscheiden, und sie zieht die Generation der heute Erwerbstätigen kollektiv für die Kinderarmut zur Verantwortung. Den Familien, die nicht zu den Verursachern des Problems gehören, werden mit dieser Rente zu hohe Lasten aufbürdet. Im Generationenzusammenhang hat die Arbeitsgeneration schon immer zwei Lasten tragen müssen: Sie mußte ihre Eltern versorgen, und sie mußte ihre Kinder großziehen. Immer mehr Deutsche tragen nur noch die erste dieser Lasten, indem sie ihre Rentenbeiträge zahlen; Familien aber tragen auch die zweite. Den Familien nun in Form des Riester-Sparens eine dritte Last aufzuerlegen ist unfair oder unüberlegt.
Es wäre besser, die aus demographischen Gründen nötigen Rentenkürzungen und die Sparlast auf diejenigen zu konzentrieren, die keine Kinder haben, denn dann würde jeder zwei Lasten tragen. Sie würden mit ihren Rentenbeiträgen die Finanzierung der Eltern sicherstellen, und sie würden zudem einen Beitrag für die eigene Alterssicherung leisten. Entweder zieht man Kinder groß, oder man spart. Wer keine Kinder hat, gleichgültig, ob er keine will oder keine bekommen kann, kann das Geld und die Zeit, die andere für die Kindererziehung benötigen, für den Aufbau einer kapitalgedeckten Zusatzrente verwenden.
Ein konkretes Reformvorhaben, das diese Gedanken umsetzt, könnte so aussehen: Das existierende Rentensystem wird nicht angetastet, aber auch nicht mit immer mehr Geld aufgepäppelt. Beitragssatz und anteiliger Bundeszuschuß werden auf dem heutigen Niveau eingefroren. Die Demographie entfaltet dann ihre Wirkung. Mitte der dreißiger Jahre, wenn die Baby-Boomer siebzig sind, wird das Rentenniveau des Eckrentners, das jetzt achtundvierzig Prozent der Bruttolöhne ausmacht, unter sonst gleichen Bedingungen bei nur noch fünfundzwanzig Prozent liegen.
Nun kann man die Frauenerwerbsquote erhöhen, hoffen, daß die Arbeitslosenquote fällt, und außerdem das Rentenalter um zwei Jahre heraufsetzen. Dann erreicht man beim Eckrentner vielleicht ein Rentenniveau von zweiunddreißig Prozent, soviel wie heute die Sozialhilfe. Beamte werden ähnlich betroffen sein, denn auch ihre Pensionen entstammen einem impliziten Umlagesystem.
Deswegen sollten zwei aufstockende Rentensäulen vorgesehen werden, die den Durchschnittsverdiener wieder auf das heutige Rentenniveau hieven. Die erste Säule besteht aus einer Kinderrente für Eltern, die als Bürgerversicherung ausgestaltet ist. Diese Rente gewährt allen Eltern unabhängig von ihrer früheren Berufstätigkeit, insbesondere auch den nicht berufstätigen Müttern, eine umlagefinanzierte Rente, die aus Beiträgen finanziert wird.
Die Beiträge werden von allen Erwerbstätigen in Proportion zu ihren Lohneinkommen bezahlt, denn alle haben sie Eltern. Die Rente ist so austariert, daß sie die Lücke zwischen dem heutigen und dem aus demographischen Gründen allmählich absinkenden Rentenniveau für eine durchschnittlich verdienende Familie mit drei Kindern auffüllt. Die Zahl "drei" ist willkürlich, doch wird mit ihr die französische Politik des dritten Kindes aufgegriffen. Wer weniger als drei Kinder hat, erhält nur eine anteilige Kinderrente.
Die zweite Säule besteht aus einer erweiterten Riester-Rente, die durch Ersparnisse in Höhe von etwa acht Prozent des Bruttoeinkommens aufgebaut wird und Kinderlosen in etwa die gleiche Zusatzrente verschafft, wie sie Eltern über die Kinderrente beziehen. Die Ersparnis ist Pflicht. Sonst verzichten viele auf das Sparen, weil sie wissen, daß sie durch den Vermögensaufbau nur ihre Ansprüche gegen den Sozialstaat vermindern. Man rede in diesem Zusammenhang nicht von der freien Entscheidung mündiger Bürger.
Die Sparpflicht beginnt für jeden mit dem Eintritt ins Berufsleben. Wenn das erste Kind geboren wird, wird ein Drittel der Sparpflicht erlassen, und ein Drittel des angesparten Vermögens wird frei. Beim zweiten und dritten Kind wird analog verfahren. Eltern erhalten die Liquidität also genau dann, wenn sie sie benötigen, und dennoch brauchen sie sich um ihre Renten nicht zu sorgen.
Finanzierungslasten entstehen durch die Kinderrente erst in den nächsten Jahrzehnten, wenn das Rentenniveau der heutigen Rentenversicherung aus demographischen Gründen fällt und aufgefüllt werden muß. Eine Sparpflicht entsteht demgegenüber schon heute, wie ja auch die Last der Kindererziehung heute schon besteht.
Viele halten ein solches Modell für den falschen Weg. Sie meinen, eine Geburtenpolitik solle sich ausschließlich des Familienlastenausgleichs in Form von Kindergeld und ähnlicher Maßnahmen bedienen, und die Versorgungskrise der Rentenversicherung müsse man durch eine allmähliche Erhöhung der Beitragssätze und Bundeszuschüsse lösen. Kinder hätten doch mit den Renten nichts zu tun.
Diese Auffassung steht in eklatantem Widerspruch zum Mütterrentenurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 7.Juli 1992 (BVerfGE 87, S. 15), mit dem die konstitutive Rolle der Kinder für das Rentensystem ausdrücklich festgestellt wurde, und sie redet unbewußt einer doppelten Staatsintervention das Wort. Die Rentenversicherung hat den Kinderwunsch geschwächt, indem sie die Erträge der Humankapitalinvestition sozialisiert hat, und nun soll dieser Wunsch wieder gestärkt werden, indem zum Ausgleich ein noch größerer Anteil der Investitionskosten sozialisiert wird.
Eine solche Politik macht weder glücklich, noch funktioniert sie ökonomisch. Das Problem ist nämlich, daß eine weitere Stärkung des Familienlastenausgleichs allerlei ungewollte Nebeneffekte wie zum Beispiel eine weitere Wohlfahrtsmigration und massive Fehlanreize am Arbeitsmarkt hervorrufen würde, gegen die der Staat wiederum vorgehen müßte.
Man sollte die Primärintervention zurücknehmen, bevor man versucht, ihre Wirkung mittels einer anderen, sekundären Intervention zu kompensieren. Diesen finanzwissenschaftlichen Grundsatz sollte man nicht aus dem Auge verlieren, wenn man über die möglichen Wege der Geburtenpolitik nachdenkt. Es ist besser, daß Bismarck das Schlafzimmer wieder verläßt, als daß sich Renate Schmidt auch noch hinzugesellt.
Der Verfasser leitet das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in München.