Essen. Die Gerechtigkeitsfrage bestimmt die politischen und ökonomischen Debatten. In einer Serie spricht die WAZ mit Meinungsmachern dieses Diskurses. In Folge 1 warnt Prof. Hans-Werner Sinn vor einem beängstigenden „Neosozialismus”.
Herr Professor, Sie haben es im Kabarett zum Sinnbild des kaltherzigen Ökonomen gebracht. Fühlen Sie sich in dieser Rolle wohl?
Sinn: Nein, aber die Unterschiede zwischen Kabarett und Politik verwischen sich ohnehin immer mehr. Auch Politiker üben sich zunehmend in Sprüchen, die nach fünf Sekunden Nachdenken spontanen Applaus erzeugen. Ökonomen haben die undankbare Aufgabe, die Menschen auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Nehmen Sie nur den Mindestlohn. Die Politik fordert ihn, weil das Wählerstimmen bringt. Der Ökonom rechnet dann vor, wie viele Stellen dadurch verloren gehen.
Wie viele?
Sinn: Die Einführung eines Mindestlohns von 7,50 Euro würde im Westen ein Neuntel der Beschäftigten und im Osten ein Viertel betreffen. Die meisten Arbeitgeber würden den höheren Lohn zähneknirschend zahlen, viele aber auch nicht. Nach einer sehr seriösen und vorsichtigen Berechnung, die Thum und Ragnitz auf der Basis der Lohnverteilung des Statistischen Bundesamtes durchgeführt haben, würden 1,1 Millionen Jobs wegfallen.
Von den 80 Prozent, die einen Mindestlohn befürworten, sind die meisten keine Geringverdiener. Warum entdeckt die Mehrheit plötzlich ihr Herz für eine Minderheit?
Sinn: Es liegt wohl daran, dass dieser Aufschwung viele geringbezahlte Jobs gebracht hat. Die Lohnschere zwischen Normal- und Geringverdienern hat sich erweitert.
Also kommt der Aufschwung doch nicht unten an, wie die Kanzlerin immer sagt?
Sinn: Nicht bei denen, die schon einen Job hatten. Mit der höheren Mehrwertsteuer hat Peer Steinbrück ihnen den Lohnzuwachs weggenommen. Aber der Aufschwung kommt bei jenen an, die endlich wieder beschäftigt werden. Seit vierzig Jahren stieg die Sockelarbeitslosigkeit von Boom zu Boom immer mehr an. Das hat nun aufgehört. Die Arbeitslosigkeit ging weitaus stärker zurück, als es der bloße Konjunkturaufschwung hätte erwarten lassen. Einer der Gründe für den Erfolg war, dass mit den Zuzahlungen im Hartz IV-System ein Niedriglohnsektor geschaffen werden konnte, ohne dass dadurch Armut entstand.
Das feiert die Politik aber nicht, sondern rückt von der Agenda 2010 ab.
Sinn: Aus diesem Grund hat Wolfgang Clement der SPD mit Austritt gedroht. Der deutsche Neosozialismus ist in der Tat beängstigend.
"Statt Mindestlöhne zu setzen, ist es besser, Mindesteinkommen zu sichern"
Es ist ja nicht nur die SPD. Die Union liefert sich mit ihr ein Wettrennen, wer nun sozialer ist.
Sinn: Es geht nicht um mehr oder weniger Sozialpolitik, sondern um Vernunft und Unvernunft bei der Sozialpolitik. Sozialpolitik kann immer nur mit dem Markt und nie gegen den Markt funktionieren. Statt Mindestlöhne zu setzen, ist es besser, Mindesteinkommen zu sichern. Es kann den Leuten doch egal sein, zu welchem Prozentsatz der Staat und zu welchem Prozentsatz der Arbeitgeber das Einkommen finanziert. Hauptsache, die Summe stimmt, und die Stellen sind da. Mindestlöhne vernichten Stellen, weil sie die Arbeitskosten in vielen Fällen über die Produktivität der Arbeit erhöhen. Mindesteinkommen tun das nicht.
Vor anderthalb Jahren haben Ökonomen noch diskutiert, ob wir Hartz IV nicht um 30 Prozent kürzen sollten.
Sinn: Das ist wieder so eine kabarettistische Verdrehung. Die Ökonomen wollten gleichzeitig die Zuverdienstmöglichkeiten ausbauen. Mehr fürs Mitmachen, weniger fürs Wegbleiben war die Devise. Wir haben zum Beispiel vorgeschlagen, den freien Zuverdienst bei Hartz IV von 100 auf 500 Euro zu erhöhen. Und wer keine Stelle findet, dem hätten wir zu heutigen Hartz-IV-Sätzen kommunale Zeitarbeitsstellen angeboten. Nicht einer hätte weniger Geld als heute gehabt, doch fast alle hätten mehr gehabt. Das ist der starke Sozialstaat, den wir brauchen.
"Kinder wuchsen in Familien auf, in denen keiner mehr arbeitete"
Wenn Sie einen starken Sozialstaat wollen – wie sozial war er denn bisher?
Sinn: Er war scheinsozial. Deutschland hat in den letzten Jahrzehnten seine Lohnersatzsysteme ausgebaut und die Frühverrentung eingeführt. Das hat Mindestlohnansprüche gegen die Marktwirtschaft erzeugt, die zu millionenfacher Arbeitslosigkeit geführt haben. Die hohe Arbeitslosigkeit bedeutete, dass immer mehr Menschen aus der Gesellschaft ausgestoßen wurden. Kinder wuchsen in Familien auf, in denen keiner mehr arbeitete, und sie selbst hatten auch keine Perspektiven mehr, was viele auf dumme Gedanken gebracht hat.
"Nochmal sollten wir uns das nicht antun"
Wie sozial eine Marktwirtschaft ist, regelt die Politik als Beauftragte der Gesellschaft. Zeigt die Wirtschaft zu wenig Engagement?
Sinn: Das kann man wohl sagen. Die Manager maximieren ihren Gewinn und achten dabei auf den sozialen Frieden im eigenen Betrieb, aber in der öffentlichen Debatte ducken sie sich weg, obwohl sie sehr deutlich sehen, welch verheerenden Kurs Deutschland derzeit nimmt.
Sie haben ein Problem mit maximalen Gewinnen?
Sinn: Nein, habe ich auch nicht. Gewinnstreben ist das treibende Element der Marktwirtschaft. Weil Unternehmer Gewinne suchen, beseitigen sie Engpässe bei der Güterversorgung der Bevölkerung und bringen das ganze System zum Laufen. In der Marktwirtschaft geht es auch den Armen besser als in der sozialistischen Staatswirtschaft. Das Experiment haben wir im eigenen Lande durchgeführt, und wir kennen das Ergebnis. Nochmal sollten wir uns das nicht antun, auch nicht im Kleinen.
Interview: Stefan Schulte