Das Kapital strebt immer zum Ort der höchsten Rendite. Nokia wird daher nicht das letzte Industrieunternehmen bleiben, das Deutschland verlässt, sagt Hans-Werner Sinn.
"Pfui Nokia": So lautete der Titel einer Boulevardzeitung, als bekannt wurde, dass der finnische Konzern 2007 einen Rekordgewinn von über sieben Milliarden Euro erzielt hatte und auch in Bochum Gewinne verbuchen konnte - während er gleichzeitig an seiner Absicht festhielt, die Handy-Produktion in Deutschland endgültig aufzugeben. Das allgemeine Unverständnis ist groß. Dass ein Betrieb schließt, der Verluste macht, ist einsichtig. Aber wie kann es sein, dass er zumacht, obwohl er schwarze Zahlen schreibt?
Die Antwort ist einfach. Sie liegt darin, dass die Kosten, mit denen ein Betrieb kalkuliert, die Eigenkapitalrendite umschließen, die bei der nächstbesten Investitionsalternative erzielt werden kann. Und das ist im Fall von Nokia die Rendite im neuen Werk in Rumänien. In ökonomischer Hinsicht ist schon lange ein Verlust, was nach den Regeln des Handelsrechts noch als Gewinn ausgewiesen wird. In Rumänien liegen die industriellen Lohnkosten je Stunde mit 2,45 Euro bei einem Vierzehntel des westdeutschen Wertes. Kein Wunder also, dass Nokia lieber dahin geht, wo das Kapital mehr Rendite erwirtschaftet als in Bochum.
Natürlich ist es ärgerlich, dass Nokia trotz des vielen Geldes, das die Politik beisteuerte, Deutschland den Rücken zukehrt. Noch ärgerlicher ist, dass in Rumänien ein Industriepark mit Geld aufgebaut wird, das mittelbar auch aus dem deutschen Staatshaushalt stammt. Das Subventionsthema lässt sich deshalb von Politik und Boulevardpresse trefflich instrumentalisieren. Es erfasst aber nicht den Kern des Problems: Der liegt vielmehr bei den unterschiedlichen Lohnkosten selbst. Die in den Medien immer wieder kolportierte Aussage, dass die Lohnpolitik in den letzten Jahren sehr zurückhaltend war, verzerrt die Wirklichkeit: Deutschland hatte von 1982 bis 2002 die höchsten industriellen Stundenlohnkosten der Welt, und trotz der Zurückhaltung bei den Steigerungsraten in den letzten fünf Jahren liegen diese Kosten noch immer auf dem dritthöchsten Platz der OECD-Länder, hinter Belgien und Norwegen. Mit 34 Euro pro Stunde übertreffen sie die finnischen Lohnkosten um etwa fünf Euro.
Die Gewerkschaften argumentieren, die Lohnunterschiede könnten nicht der Hauptgrund für die Umsiedelung sein, weil sie nur zehn Prozent vom Umsatz ausmachten und der Löwenanteil der Kosten bei den Vorleistungen anfalle. Dieses Argument ist naiv. Die Kosten für jene Vorprodukte, die international handelbar sind, sind überall gleich hoch und deshalb nicht standortrelevant, wie groß auch immer ihr Anteil an den Gesamtkosten ist. Und die Kosten für lokale Dienstleistungen wie Service und Logistik sind zwar standortrelevant, werden aber selbst wiederum maßgeblich von den Lohnkosten vor Ort erklärt. Unter den Kosten sind es immer nur die lokalen Lohnkosten und in begrenztem Umfang lokale Steuern, die auf die Standortentscheidungen einwirken. Selbst Bodenpreise spielen im Aggregat kaum eine Rolle, weil sie endogen durch die Standortentscheidungen selbst erklärt werden. Die Gewerkschaften können sich mit dem Hinweis auf den niedrigen Anteil der direkten Lohnkosten nicht aus der Verantwortung stehlen.
Hinter der Standortentscheidung von Nokia steht das knallharte Gesetz vom Ausgleich der Profitraten, das schon Karl Marx kannte. Das Kapital strebt stets zum Ort der höchsten Rendite, und indem es das tut, drückt es die Rendite dort, wo es hingeht, und erhöht sie dort, wo es weggeht. Wo es weggeht, verknappt sich das Kapital. Dadurch verringert sich die Nachfrage nach Arbeitskräften und Boden, sodass der Lohn, der Bodenpreis und die Preise nicht handelbarer Güter trendmäßig fallen. Über eine reale Abwertung (eine Deflation der Preise und Löhne relativ zu anderen Ländern) wird die Eigenkapitalrendite wieder erhöht. Umgekehrt ist es am Zielort. In dem Maße, wie Kapital dorthin fließt, senken steigende Löhne und Bodenpreise die anfangs hohe Eigenkapitalrendite. Ein neues Gleichgewicht, bei dem der Kapitalstrom versiegt, ist erreicht, wenn die Renditen gleich sind.
Das Gesetz vom Ausgleich der Profitraten ist essenziell für die Funktionsweise des kapitalistischen Systems, denn es stellt sicher, dass das gemeinsame Sozialprodukt der beteiligten Regionen maximiert wird. Gegeben die Kapitalmenge, die zur Disposition steht, würde jede andere Verteilung auf die rivalisierenden Standorte zu einem kleineren Sozialprodukt der Regionen zusammengenommen führen. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass das Gesetz vom Ausgleich der Kapitalrenditen das wichtigste ökonomische Gesetz des Kapitalismus ist. Wegen dieses Gesetzes hat der Kapitalismus seinen historischen Siegeszug angetreten, und der Kommunismus ist unter anderem deshalb zusammengebrochen, weil er das Gesetz sträflich missachtet hat und das knappe Kapital, das zur Verfügung stand, äußerst ineffizient unter rivalisierenden Verwendungen verteilte. Anfangs hatten die Kommunisten den Kapitalzins als Steuerungsinstrument verboten, später führte man verschämt sogenannte Lenkungsabgaben auf den Kapitalstock ein. Nie gelang es kommunistischen Systemen, wirtschaftlich mit dem Kapital umzugehen, über das sie verfügten.
Es gibt verschiedene Indikatoren dafür, dass die Kräfte, die hinter dem Gesetz stehen, Deutschland besonders stark beeinflussen. Einer davon liegt in einer erheblichen (relativen) Preis- und Lohndeflation. Deutschland hatte seit Einführung der Währungsunion 1999, gemessen am Preisindex des Bruttoinlandsprodukts, die niedrigsten Preissteigerungen des Euro-Raums. Handelsgewichtet lag die reale Abwertung gegenüber den anderen Euro-Ländern bis zum Jahr 2007 bei 11,2 Prozent. Die Lohnstückkosten blieben sogar noch ein wenig weiter zurück. Andere Indikatoren sind die Kapitalabwanderung und der Arbeitsplatzverlust selbst. 2006 haben die Deutschen 194 Milliarden Euro gespart. So viel stand für inländische Nettoinvestitionen als Investitionskapital zur Verfügung. Tatsächlich investiert wurden jedoch nur 73 Milliarden Euro. Der Rest wanderte als Nettokapitalexport, zumeist als Finanzkapital, ins Ausland.
Vorläufige Berechnungen des Statistischen Bundesamts zeigen, dass sich die Verhältnisse 2007 nicht wirklich verändert haben. Der Anteil der Nettokapitalexporte an der gesamtwirtschaftlichen Ersparnis hat sich sogar noch geringfügig von 62,3 Prozent auf 62,8 Prozent erhöht. Es ist kennzeichnend für das Niveau der volkswirtschaftlichen Kenntnisse in Deutschland, dass derselbe Sachverhalt häufig bejubelt wird, weil er sich in einem hohen Leistungsbilanzüberschuss niederschlägt. Definitorisch sind Leistungsbilanzüberschuss und Nettokapitalexport identisch. Ein Land, dem Kapital davonläuft, muss nun mal die Wertmenge an Gütern, dies es selbst nicht mehr investieren mag, ins Ausland liefern.
Mit der Abwanderung des Kapitals gingen in Deutschlands Industrie viele Arbeitsplätze verloren. Nokia ist symptomatisch für einen Trend, der Deutschland in den letzten Jahrzehnten erfasst hat und mit dem Fall des Eisernen Vorhangs an Stärke gewonnen hat, weil die 28 Prozent der Menschheit, die in den ex-kommunistischen Ländern leben, nun an die Marktwirtschaft westlichen Musters Anschluss suchen. Die Kräfte, die hinter dem Gesetz vom Ausgleich der Profitraten stehen, werden unser Land noch jahrzehntelang in Atem halten. Meist geht die Entwicklung weniger spektakulär vonstatten als im Falle Nokias, weil das Kapital über das Bankensystem statt als Direktinvestition ins Ausland wandert.
Auch lassen die Firmen ihre Endmontage häufig in Deutschland und verlagern nur ihre Vorproduktion ins Ausland, ein Phänomen, das ich als Basar-Effekt bezeichnet habe. Dennoch kam es durch diese Effekte zu einem atemberaubenden Aderlass bei der Industriebeschäftigung. Seit der deutschen Vereinigung sind etwa 3,1 Millionen Stellen im Verarbeitenden Gewerbe verschwunden. Rechnerisch hat Deutschland seit seiner Vereinigung alle Industriebeschäftigten der DDR verloren - und dazu 1,2 Millionen im Westen. Im Boomjahr 2007 wurde der verhängnisvolle Trend zwar kurzfristig unterbrochen, wie schon 2000 und 2001, doch mit einer Trendwende hat dies wenig zu tun. Wenn der derzeitige Aufschwung zu Ende ist, wird sich die Kurve vermutlich wieder nach unten verlängern.
Prinzipiell müssen die Abwanderung von Kapital und der Verlust von Arbeitsplätzen in bestimmten Branchen aber nicht zu einer steigenden gesamtwirtschaftlichen Arbeitslosigkeit führen. Eine Wirtschaft mit flexiblen Löhnen schafft es stets, den Arbeitsmarkt ins Gleichgewicht zu bringen. Nach der Abwanderung des Kapitals und der Vernichtung von Arbeitsplätzen in einzelnen Betrieben fallen die Löhne gegen den Trend.
Dadurch steigt die Wettbewerbsfähigkeit der Arbeitnehmer wieder, die Abwanderung wird gebremst. Wenn die Löhne nur moderat steigen, kann das Land seinen Beschäftigungsstand halten, weil die arbeitsintensiven Branchen, insbesondere im Dienstleistungsbereich, wachsen und die Industrie ihre Automatisierung nur noch mit verringertem Tempo vorantreibt. Wehe jedoch, wenn die Lohnentwicklung von marktfremden Kräften nach oben gedrückt wird und nicht mehr dem Gesetz von Angebot und Nachfrage gehorcht! Dann gibt es keine neuen Jobs, und mit dem Kapital gehen auch die Arbeitsplätze verloren. Das war der Trend von etwa 1970 bis mindestens 2005. Die Arbeitslosigkeit stieg über die Konjunkturzyklen hinweg immer weiter - bis hin zu den Rekordzahlen im Winter 2004/05.
Die Agenda 2010 hat inzwischen aber zu einer Trendwende geführt. Mit der Verringerung der Lohnersatzansprüche und dem System der Zuzahlungen über Hartz IV fiel der implizite Mindestlohn des Sozialsystems, sodass in Deutschland eine neue Beschäftigungsdynamik entstand. Der derzeitige Boom ist der erste seit einem Dritteljahrhundert, bei dem die westdeutsche Sockelarbeitslosigkeit im Vergleich zum vorangehenden Boom nicht mehr stieg. Mit etwas Glück wird die Arbeitslosigkeit im Westen 2008 unter das Niveau von 2001 fallen, als der letzte Boom zu Ende ging.
Es gibt gleichwohl nicht viele Schrauben, an denen man drehen kann, um Deutschlands Industriebeschäftigte wettbewerbsfähig zu halten. Innovationen und technischer Fortschritt, von denen manche das alleinige Heil erwarten, haben nur begrenze Wirkungen - niemand kann den Inhaber technischen Wissens daran hindern, dieses Wissen im Ausland zu verwerten. Eher kommt es auf einen hohen Ausbildungsstand an: In dem Maße, wie man besser ist als andere, kann man auch teurer sein. Entscheidend sind institutionelle Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt, die wettbewerbsfähige Lohnstrukturen ermöglichen.
Die Agenda 2010 hat dazu beigetragen, die nötige Flexibilität zu schaffen. Man hätte Hartz IV weiterentwickeln sollen, um die von der Globalisierung erzwungenen niedrigen Löhne im unteren Bereich sozial akzeptabel zu machen. Stattdessen wird die Agenda "rückabgewickelt". Die Lohnersatzeinkommen werden wieder länger gezahlt, mit Mindestlöhnen sollen die Lohnstrukturen rigider gemacht werden, als sie je waren. Bleibt nur zu hoffen, dass Nokia nicht der Vorbote einer Rückkehr zu dem verhängnisvollen Trend ist, der Deutschland in mehr als drei Jahrzehnten seit der sozialliberalen Koalition bedroht hat
Hans-Werner Sinn ist Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung in München.