Der Marktwirtschaftler | Warum der Wirtschaftsprofessor Hans-Werner Sinn vor den Nebenwirkungen neuer Staatsschulden warnt und welche neuen Regeln er den deutschen Banken vorschreiben würde
€uro: Herr Sinn, auch ohne die kommenden Konjunkturprogramme summiert sich die deutsche Staatsschuld bereits auf 1,6 Billionen Euro. Und jede Sekunde kommen 470 Euro hinzu. Muss uns angst und bange werden?
Hans-Werner Sinn: Das wäre übertrieben. Die offenen Schulden in Form ausstehender Anleihen betragen zurzeit 65 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Nach dem Maastrichter EU-Vertrag dürfen es nur 60 Prozent sein. Diese Grenze verletzen wir Jahr um Jahr. Viel mehr Sorgen mache ich mir allerdings wegen der versteckten Staatsschulden in Form von Ansprüchen der Bürger gegen die Renten- und Krankenversicherungen. Hier reden wir von knapp sieben Billionen Euro oder 270 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wenn der Staat diese Ansprüche eines Tages nicht mehr erfüllen kann, bringt das die größeren Probleme.
€uro: Fast alle Industrieländer haben bereits gigantisch hohe Schuldenberge angehäuft. Und doch versprechen allein die USA im Kampf gegen die Wirtschaftskrise Staatsgarantien und Investitionen in Billionenhöhe. Taumelt die Welt in einen Schuldenrausch?
Sinn: Besonders die USA setzen heute auf kreditfinanzierte Schuldenprogramme. Die Schieflage dort ist entstanden, weil sich die US-Bürger über beide Ohren verschuldet haben, um sich ein schönes Leben zu machen. Nun will der neue Präsident Obama den Staat anstelle der Privatleute weiter verschulden. Amerika hat Opium genommen, leidet jetzt unter einem Kater und bekämpft ihn mit neuem Opium.
€uro: China will satte 600 Milliarden US-Dollar in seine Wirtschaft pumpen, Japan 200 Milliarden Dollar, die Bundesregierung bislang mehr als 50 Milliarden Euro. Da sind Kreditgarantien für Banken und Spargeldgarantien für die Bürger noch gar nicht eingerechnet. Ist das alles wirklich finanzierbar?
Sinn: Von den Staatshilfen und Garantien soll ja nur ein kleiner Teil in barer Münze verausgabt werden. Die Bundesregierung rechnet mit fünf Prozent an echten Kosten. Ich halte das für zu knapp berechnet. Bei der amerikanischen Sparkassenkrise von 1991 waren 25 Prozent an echten Kosten angefallen.
€uro: Aber noch mal: Ist das finanzierbar? Noch vor kurzem hieß es doch, der Staat sei klamm.
Sinn: Die Bundesregierung glaubt, dass sie sich viel Geld von den Bürgern leihen kann, indem sie ihnen dafür neue Staatsanleihen gibt. Dann hätten die Sparer eben diese im Depot, statt ihr Geld zu horten, und fühlen sich unter dem Strich nicht ärmer – wenn sie künftige Steuern zur Bedienung der Staatsschulden aus ihrem Bewusstsein streichen. Sie fühlen sich eventuell sogar reicher, wenn der Staat mit ihrem Geld Arbeitsplätze schafft oder die Steuern senkt. Und könnten dadurch mehr konsumieren. Man kann nur hoffen, dass diese Idee auch in dieser Krise aufgeht.
€uro: Muss auch Geld gedruckt werden, um Konjunkturprogramme zu finanzieren?
Sinn: Das ist in Deutschland verboten, und das ist auch gut so. Wenn der Staat die Mittel dem Kapitalmarkt entzieht, nimmt er niemandem etwas weg, weil es dort zur Zeit einen gewaltigen Überschuss an ungenutzter Liquidität gibt, für die der Weg in die privaten Investitionen aus vielerlei Gründen blockiert ist.
€uro: Sehen Sie Inflationsgefahren?
Sinn: Im Moment nicht. Langfristig bergen Staatsschulden allerdings immer Inflationsgefahren, weil der Staat einen Anreiz hat, sich der Schulden durch Inflation zu entledigen. Die Italiener haben diese Strategie jahrzehntelang verfolgt. Zum Glück haben wir in Europa eine unabhängige Notenbank, die der Preisstabilität verpflichtet ist. Man weiß aber nicht, was noch kommt. Der französische Präsident Sarkozy führt ja einen Feldzug gegen die Unabhängigkeit der EZB. Je mächtiger er wird, desto größer werden die langfristigen Inflationsgefahren für Europa.
€uro: Also könnten europäische Regierungen in den nächsten Jahren versuchen, einen Teil der Staatsschulden wegzuinflationieren.
Sinn: Schon, mit der genannten Einschränkung. Der Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes, an dessen Theorien sich auch die Bundesregierung derzeit orientiert, lehrte jedoch, dass Schulden, die in der Krise aufgebaut werden, im nächsten Boom wieder getilgt werden müssen. Wir sollten also den Keynesianismus nicht nur heute bei unseren Ausgabenprogrammen, sondern auch später bei der Schuldentilgung ernst nehmen.
€uro: Sollten... Aber was lehrt die Praxis?
Sinn: Bislang hatte leider der Ökonom Milton Friedman Recht: Theoretisch ist Keynesianismus eine schöne Sache. Aber in der Praxis blieb die keynesianische Politik einseitig. In der Flaute wurden Schulden gemacht und im Boom baute man sie nicht ab. Somit stieg mit jeder Krise die Staatsschuld. Nur kann das nicht ewig so weitergehen. Die Medizin der Staatsverschuldung wird uns helfen, über diese Konjunkturkrise hinwegzukommen, aber die Nebenwirkungen sind beträchtlich. Langfristig müssen wir neue Schäden für die Volkswirtschaft befürchten.
€uro: Die im schlimmsten Fall bedeuten?
Sinn: Island hat gezeigt, dass auch Staaten insolvent werden können. Aber auch Staaten wie Italien, Japan, die Schweiz und Deutschland sind angesichts ihrer ungelösten demografischen Probleme nicht vor Finanzkrisen gefeit. Deutschland hat in seiner Geschichte schon mehrfach unter staatlichen Finanzkrisen gelitten. Die Zahlungsversprechen des umlagefinanzierten Rentensystems sind so gigantisch, dass einem hier angst und bange werden kann, um Ihre Terminologie einmal aufzugreifen. Die derzeit geplante Neuverschuldung wird das Problem nicht lindern.
€uro: Müssen wir Sparer befürchten, durch eine zu hohe Inflation langfristig enteignet zu werden?
Sinn: Für realistischer halte ich es, dass die Sparer auf dem Wege über demokratische Entscheidungsprozesse ihr Geld verlieren. Es gibt jetzt schon viele Stimmen, die meinen, Deutschland hätte keine Probleme, wenn nur die Vermögen anders verteilt würden. Denken sie nur an die Debatte über die Erbschaftssteuer. Ähnliche Umverteilungsdebatten werden im Zuge der weiteren Entwicklung der Finanzprobleme des Staates immer lauter werden.
€uro: Werden linke Politiker hierzulande im Zuge der Krise an Einfluss gewinnen?
Sinn: Es gibt ja bereits einen Linksruck in Deutschland. In Krisenzeiten sind die Wähler immer für radikale Lösungen empfänglich.
€uro: Die Linken fordern, dass der Staat viel stärker in die Wirtschaft eingreift. Und genau das passiert zurzeit. Muss das sein?
Sinn: Zum Zwecke der Krisenbewältigung ist das unvermeidbar. Aber danach muss sich der Staat wieder zurückziehen. Leider nehmen diejenigen, die schon immer Verstaatlichungen und Sozialismus wollten, diese Krise zum Vorwand, um darauf ihr Süppchen zu kochen.
€uro: Die Linken sagen, wir brauchen hohe Reichensteuern, um damit Konjunkturprogramme bezahlen zu können.
Sinn: Das wäre ein Konjunkturvernichtungsprogramm allererster Güte, weil dadurch die Reichen, die für die Investitionen verantwortlich sind, das Weite suchen. Die Konjunktur wird schließlich vor allem vom Auf und Ab der Investitionen beeinflusst.
€uro: Manche Ökonomen befürchten, dass die Konjunkturprogramme der Bundesregierung verpuffen, weil die Banken zu restriktiv bei der Kreditvergabe sind. Sie auch?
Sinn: Es besteht in der Tat die Gefahr, dass sich in Deutschland eine Kreditklemme entwickelt. Nach den Umfragen des ifo-Instituts sagen 40 Prozent der Firmen, dass sie die Kreditvergabe derzeit als restriktiv empfinden. Bei Großunternehmen sind es bereits 48 Prozent, Tendenz stark steigend. Der Bankenrettungsplan muss also unbedingt überarbeitet werden.
€uro: Wo sehen Sie Fehler?
Sinn: In der Freiwilligkeit des Plans. Wenn man Manager mit Gehaltskürzungen bestrafen will, falls sie Staatsgeld annehmen, muss man sie zur Annahme zwingen. Niemand lässt sich freiwillig bestrafen, auch Bankvorstände nicht. Außerdem wollen auch die Bankaktionäre den Staat nicht in ihren Verwaltungsstrukturen haben. Banken, die angeschlagen, aber nicht k. o. sind, verzichten also lieber auf Staatsgelder und reduzieren ihre Kreditvergabe proportional zum geschrumpften Eigenkapital. Dies ist das Rezept für eine Kreditklemme.
€uro: Allerdings widersprach beispielsweise der Deutschland-Chef der Deutschen Bank kürzlich seinen Firmenkunden, die eine zu restriktive Kreditvergabe des Instituts monierten.
Sinn: Die von uns befragten 4000 Unternehmen sehen das großenteils anders.
€uro: Wie würden Sie den Rettungsplan für die Banken stricken?
Sinn: Wir sollten das englische System kopieren: Dort muss im Verhältnis zu den Ausleihungen der vergangenen vier Jahre eine bestimmte Menge Eigenkapital vorgewiesen werden. Wer sich dieses Geld nicht am Markt beschaffen kann, muss es vom Staat annehmen. Bevor man Rettungsfonds zur direkten Kreditvergabe des Staates an die Firmen auflegt, sollte man das so machen. Staatliche Instanzen können nicht entscheiden, wer das Geld am besten verwerten würde.
€uro: Brauchen wir ansonsten striktere Regeln für die Banken?
Sinn: Wir brauchen unbedingt neue, striktere Regeln für die Banken. Am wichtigsten ist, dass sie gezwungen werden, mit mehr Eigenkapital zu arbeiten. Das bedeutet einerseits, dass sie in Krisen mehr zuzusetzen haben. Und andererseits, dass sie vorsichtiger agieren, weil sie mehr zu verlieren haben. Auch Zweckgesellschaften im Ausland müssen im Inland mit Eigenkapital unterlegt werden. Zudem darf man nicht zulassen, dass die Banken ihre Eigenkapitalquoten künstlich hochrechnen, indem sie Teile ihrer Schulden mit null Risiko bewerten.
€uro: Einige führende Politiker sprechen die Gilde der Ökonomen mitschuldig für die Krise, weil deren Prognosen „immer falsch“ seien. Der SPD-Fraktionschef im Bundestag, Peter Struck, forderte kürzlich gar die Abschaffung des, wie er meint, „inkompetenten“ und „überflüssigen“ Sachverständigenrats. Zu starker Tobak?
Sinn: Ich halte den Sachverständigenrat für ein sehr kompetent besetztes Gremium. Den Politikern werfe ich umgekehrt vor, dass sie den Ökonomen selten wirklich zuhören, sondern herausfiltern, was sie hören wollen. Der Sachverständigenrat hat immer für Strukturen geworben, die eine langfristige Stabilität unseres Landes sicherstellen. Und ein Hans-Werner Sinn schreibt seit Jahren gegen den Laschheitswettbewerb der Regulierungssysteme an und setzt sich speziell für eine striktere Bankenregulierung ein. All das wurde bislang kaum zur Kenntnis genommen.
€uro: Frustriert Sie das?
Sinn: Ja, ziemlich. Man sucht jetzt Sündenböcke, beschimpft Ökonomen als neoliberal und ignoriert, dass die Neoliberalen im Gegensatz zu den Paläoliberalen, also den Altliberalen, eine regulierte Wirtschaft wollen! Allein das beweist, mit wie viel Unkenntnis die öffentliche Diskussion geführt wird.
€uro: Herr Sinn, vielen Dank für das Gespräch.
Hans-Werner Sinn, geboren am 7. März 1948 in Brake/ Westfalen, studierte von 1967 bis 1972 Volkswirtschaft in Münster. Er habilitierte sich 1983 und lehrte fortan an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Seit 1994 ist er dort Professor für Finanzwissenschaften und Nationalökonomie. Seit 1999 arbeitet Sinn auch als Chef des Münchener ifo Instituts für Wirtschaftsforschung. Zudem ist der 60-Jährige Mitglied in zahlreichen nationalen und internationalen Expertenkommissionen und hat sich als Autor populärwissenschaftlicher Bücher einen Namen gemacht. Kürzlich erschien „Das grüne Paradoxon“, ein Werk über die Klimapolitik.
Das Gespräch führte €uro-Redakteur Mario Müller-Dofel.