Seit letztem Herbst wird Deutschland von vielen Ökonomen und Politikern aus den angelsächsischen Ländern, allen voran Paul Krugman, gescholten, weil es angeblich nicht genug gegen die neue Wirtschaftskrise tue und sich als Trittbrettfahrer der Welt durch die Konjunkturprogramme der anderen Länder aufpäppeln lasse. Zuletzt fragte die „Financial Times“ am 20. April, wo denn die deutschen Ökonomen seien, die Deutschland verteidigten, und verband diese Frage mit der Vermutung, sie hielten die Politik der Regierung zwar für falsch, seien aber angesichts der Riten der deutschen Konsensgesellschaft zu feige, ihre öffentliche Meinung kundzutun. Diese Diskussion ist aus deutscher Sicht aberwitzig. Sie stellt die Wahrheit auf den Kopf.
Deutschland hat zwei Konjunkturprogramme im Umfang von 80 Mrd. Euro oder 3,2% des BIP verabschiedet, wovon dieses Jahr 1,0% des BIP wirksam wird. Das ist nach dem ersten Eindruck in der Tat weniger als das US-Programm, das insgesamt auf ein Volumen von 6,2% des BIP kommt, wovon 2,0% auf das Jahr 2009 entfallen.
Konsum weiter möglich. Aber dieser Eindruck täuscht, denn der deutsche Staat stabilisiert die Welt bereits durch die Automatismen seines umfangreichen Sozialsystems. So sorgen die verschiedenen Stufen einer großzügigen Arbeitslosenversicherung dafür, dass die Menschen ihren Konsumstandard aufrechterhalten können, auch wenn sie arbeitslos werden. Deutschland hat sogar ein Kurzarbeitergeld, das den Unternehmen die Möglichkeit gibt, ihre Arbeitskräfte nur zu einem Teil der Zeit zu beschäftigen und den Lohnausfall teilweise durch den Staat bezahlen zu lassen. Ohne dieses Kurzarbeitergeld wäre die Arbeitslosenzahl im Jahresschnitt 2009 vermutlich um 300.000 Personen höher.
Außerdem beziehen in Deutschland über 40% der Erwachsenen (Rentner, Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, Unfallopfer, Studenten) staatliche Transfereinkommen, besonders in den neuen Bundesländern, während die Belastung der Einkommen der Arbeitenden mit Steuern und Sozialabgaben hoch ist. Dies alles hemmt zwar das langfristige Wirtschaftswachstum und ruft strukturelle Probleme hervor, doch bedeutet es, dass das Staatsbudget extrem antizyklisch reagiert und die Ökonomie in hohem Maße stabilisiert.
Schauen wir uns die Zahlen an. Deutschland hatte im Jahr 2008 ein praktisch ausgeglichenes Staatsbudget (Defizit 0,1%) und wird nach der jüngsten Prognose der OECD vom 31. März im Jahr 2009 ein Budgetdefizit von 4,5% aufweisen. Der konjunkturelle Impuls seitens des deutschen Staates wird also im Jahr 2009 etwa 4,4% betragen. In den USA lag das Budgetdefizit im Jahr 2008 bei 5,8% und wird nach derselben Quelle im Jahr 2009 einen Umfang von 10,2% haben. Auch das ist ein konjunktureller Impuls in Höhe von 4,4%, genauso viel wie der konjunkturelle Impuls, der vom deutschen Budget ausgeht.
Es kommt hinzu, dass Deutschland im Inneren viel stabiler ist, als die USA es sind, denn hier gibt es das Problem der überschuldeten und nun kreditbeschränkten Haushalte nicht. Immobilienkredite vergaben die Banken nur bis zu maximal 60% des Hauswertes statt bis zu 100% und mehr, wie es in den USA üblich ist.
Außerdem gibt es praktisch keine Kreditkartenschulden oder sonstige Gründe für eine Überschuldung der privaten Haushalte, die mit der Situation in den USA vergleichbar wären. Der Normalhaushalt hat die Möglichkeit, etwaige Einkommensausfälle durch die Variation seiner Sparquote abzufangen. So ist erklärlich, dass der Privatkonsum in Deutschland nach der Prognose der Wirtschaftsforschungsinstitute für das Jahr 2009, mitten in der schärfsten Krise der Nachkriegszeit, um 0,3% ansteigen wird, während er sich fast überall sonst auf der Welt im freien Fall befindet.
Importe stabil. Deutschland ist nach den USA der zweitgrößte Importeur der Welt. Die Stabilität des deutschen Konsums ist deshalb die derzeit stärkste konjunkturelle Stütze der Weltwirtschaft. Während die deutschen Exporte einbrechen, erweist sich jener Teil der Importe, der nicht aus Vorprodukten für die Exportgüter besteht, als stabil, und das hilft der ganzen Welt.
Man kann auch das präzisieren. Auf der Basis der derzeit aktuellsten OECD-Statistiken nahm der Strom der auf das Jahr hochgerechneten deutschen Warenexporte von Januar 2008 bis Januar 2009 um 173 Mrd. Dollar mehr ab, als die Importe fielen. Das ist die stärkste Verringerung des Außenbeitrags aller Länder dieser Erde. Selbst in Japan beträgt der Rückgang nur 157 Mrd. Dollar. Gleichzeitig nahmen die US-Importe um 284 Mrd. Dollar mehr ab als die Exporte, und der chinesische Außenbeitrag stieg um 249 Mrd. Dollar. Mit anderen Worten: Während die USA und China von Januar 2008 bis Januar 2009 der Weltwirtschaft auf das Jahr hochgerechnet Nachfrage im Umfang von 284 bzw. 294 Mrd. Dollar entzogen, fügte Deutschland ihr 173 Mrd. Dollar Nachfrage hinzu. Es ist, als ob Deutschland ein Konjunkturprogramm im Umfang von 173 Mrd. Dollar aufgelegt und dieses Programm ausschließlich zum Kauf ausländischer Waren verwendet hätte.
Bezüglich der größeren europäischen Länder ist das Bild gemischt. So hat Italien der Welt einen kleinen Impuls in Höhe von sechs Mrd. Dollar gegeben, doch die anderen Länder haben ihr Nachfrage entzogen: Spanien 101 Mrd. Dollar, Großbritannien 50 Mrd. Dollar und Frankreich immerhin noch 19 Mrd. Dollar, stets auf der Basis des Vergleichs Januar 2009 gegenüber 2008 und hochgerechnet auf das Jahr.
Wie eine Atombombe. Insofern stellt sich der Sachverhalt wie folgt dar: Der Hauspreisrückgang, der die Immobilienwerte in den USA in den letzten zwei Jahren um etwa sieben Bio. Dollar zurückgehen ließ, kam der Explosion einer Atombombe gleich, deren Schockwellen in China, Spanien, Großbritannien und Frankreich noch verstärkt wurden. Deutschland ist demgegenüber, noch vor Japan, das Land, das diese Schockwellen hauptsächlich absorbiert hat. Anstatt seinen Beitrag zur Krisenbewältigung kleinzureden, sollte die Welt Deutschland dankbar sein.
von Hans-Werner Sinn
Copyright: Project Syndicate 2009, www.project-syndicate.org
Weitere Veröffentlichungen in:
MALI, Les Echos
INDONESIA, Jakarta Post
JAPAN, The Japan Times
PHILLIPPINES, Business World
AUSTRIA, Die Presse
BELGIUM, European Voice
CROATIA, Poslovni Dnevnik
ESTONIA, Aripeav
FINLAND, Taloussanomat
GERMANY, Börsen Zeitung
GREECE, Eleftheros Typos
HUNGARY, Vilaggazdasag
MOLDOVA, Logos Press
PORTUGAL, Jornal De Negocios
SLOVAKIA, Tyzden
SLOVENIA, Finance
SPAIN, Expansion
SWITZERLAND, L’Agefi
BRAZIL, Zero Hora
GUATEMALA, The Guatemala Times
JORDAN, Jordan Times
KUWAIT, Al Jarida
SAUDI ARABIA, Al Eqtisadiah
UNITED STATES, International Business Times