Zwei Stunden sind für das Interview angesetzt. Zu Beginn des Termins im Münchner Ifo-Institut erklärt Hans-Werner Sinn, er werde um eine Stunde verkürzen, um vorzeitig nach Berlin zu fliegen. Aber dann nimmt sich Deutschlands wohl einflussreichster Ökonom doch mehr Zeit für die persönlichen und volkswirtschaftlichen Fragen - und erklärt, wie die Familie Sinn mit Geld umgeht.
Herr Sinn, was ist es für ein Gefühl, die Kurse im eigenen Depot bewegen zu können?
Was meinen Sie damit?
Das ifo Institut, dessen Chef Sie sind, gibt jeden Monat den Geschäftsklimaindex heraus. Und der bewegt oft den DAX.
Ob Sie es glauben oder nicht: Ich weiß nicht, wie das mein Depot beeinflusst, weil ich nicht weiß, was darin ist. Die Finanzen sind Sache meiner Frau. Da haben wir eine strikte Arbeitsteilung. Ich habe genug zu tun und bin froh, dass ich mich nicht noch um Geldanlagen kümmern muss.
Reden Sie beide zumindest ab und zu über das Thema?
Ja, aber sehr selten. Ich weiß nur: Wir haben ein Haus mit Schulden, die wir abzahlen. Außerdem interessiert mich das Thema Investieren generell nicht.
Einspruch! Im Herbst 2002 haben Sie öffentlich gesagt, dass Sie den DAX für extrem unterbewertet halten und Aktien kaufen wollen.
Das war vor dem Haus. Und was meine Frau damals tatsächlich gemacht hat, weiß ich schlichtweg nicht. Ich erinnere mich nur an eine einzige Gelegenheit, wo ich ihr gesagt habe, sie soll mal etwas machen. Und das hat sich tatsächlich gelohnt.
Jetzt sind wir aber gespannt.
Das war im Januar 2002 während der Umstellung des Bargeldumlaufs auf den Euro, was damals bis Ende Februar dauerte. Der virtuelle Euro, der schon seit 1999 existierte, war zuvor stark gefallen, weil Osteuropäer und Schwarzgeldbesitzer ihre umfangreichen Bestände an DM-Bargeld abstießen. Aber es war klar, dass sie sofort nach Abschluss der Umstellung, also ab März 2002, wieder Euro-Bargeld brauchen würden. Deshalb erwartete ich, dass die Nachfrage nach dem Euro nach dem Währungsstart stark anziehen und der Kurs nach oben schießen würde. Ich hatte darüber theoretisch gearbeitet und auch publiziert. So habe ich meiner Frau gesagt, sie solle genau darauf spekulieren, und lag damit richtig. Das war einer der seltenen Momente, in denen ich das Gefühl hatte, dass ich mehr weiß als fast alle anderen Marktteilnehmer.
Wie bitte? Einer der bekanntesten deutschen Ökonomen weiß normalerweise nicht mehr als alle anderen Anleger?
Bei Aktienbörsen und anderen Finanzmärkten gilt das Theorem der effizienten Märkte. Das besagt, dass zu jedem Zeitpunkt in jedem Kurs alle relevanten Informationen schon berücksichtigt sind und man den Markt nicht schlagen kann. Es sei denn, man hat bessere Informationen als die Profis. Das ist bei 99 Prozent der Anleger nicht der Fall. Insofern macht man einen Fehler, wenn man glaubt, man könne sich durch cleveres Anlagemanagement verbessern. Das kann nur das eine Prozent der Profis. Die anderen sind lediglich Spielpartner. Irgendwo muss das Geld ja herkommen, das die Profis verdienen.
Gehören Sie nicht manchmal zu den Profis?
Nein. Volkswirtschaftliches Wissen ist dafür zu abstrakt und generalisierend, als dass man die Informationen hätte, die im Einzelnen bei Anlageentscheidungen helfen. Die Anleger, die sich beruflich damit beschäftigen und dauernd vor ihren Bildschirmen sitzen, wissen das besser. Nur bei Wechselkursen geht es mir manchmal anders.
Dann versuchen wir da mal unser Glück. Was passiert mit dem Dollar?
Er wird so lange schwach bleiben, bis das riesige Defizit in der amerikanischen Leistungsbilanz weitgehend verschwunden ist. Wohlgemerkt, ich rede nicht über das Auf und Ab des Kurses vom einen zum anderen Jahr, sondern über den Trend der nächsten fünf bis zehn Jahre. Im Moment verzerrt die Griechenland-Krise das Grundmuster ein wenig. Aber die Euro-Zone als Ganzes hat einen kleinen Überschuss in der Leistungsbilanz. Die USA haben ein gigantisches Defizit, und das muss weg.
Auch wenn Sie es nur aus akademischem Interesse betrachten – wie schätzen Sie die Lage an den weltweiten Aktienmärkten ein?
Hier herrscht wieder einmal irrationaler Überschwang. Beispiel USA: Wir haben im Moment beim S&P 500 ein Kurs-Gewinn-Verhältnis von gut 20. Der Mittelwert, seit dem Jahr 1880 gerechnet, liegt bei 16. Die Kurse in den Vereinigten Staaten sind also überhöht, gemessen an den Gewinnen und dem langfristigen Durchschnitt. Und die europäischen Kurse folgen den amerikanischen.
Aber die Wachstumserwartungen könnten zunehmen, sodass ein höheres Kurs-Gewinn-Verhältnis gerechtfertigt wäre.
Die Realität wird diesen Erwartungen nicht folgen. Die Phasen des stürmischen Wachstums der Nachkriegszeit sind vorbei. Wir kommen eher in ein ruhigeres Fahrwasser, sodass das durchschnittliche Kurs-Gewinn-Verhältnis eher niedriger sein müsste als höher. Gerade in den Vereinigten Staaten sind die Probleme immens.
Das hätten wir gern konkreter.
Das dortige System der Immobilienfinanzierung ist zerstört – in einem Ausmaß, wie es in Deutschland nicht bekannt ist. Bei Gewerbeimmobilien stecken wir noch mitten in der großen Krise. Die Preise sind im freien Fall. In einem Kongressbericht, der gerade herauskam, rechnet man deswegen noch mit Hunderten von Bankpleiten. Der private Verbriefungsmarkt für Immobilienkredite ist vollständig zusammengebrochen, von 2006 bis 2009 um 97 Prozent. Man fragt sich, wie die Amerikaner noch ihre Häuser finanzieren und ihre Umschuldungen machen.
Und was ist die Antwort?
Sie finanzieren sich über den Staat. Über die staatlichen Institutionen Fannie Mae, Freddie Mac und Ginnie Mae liefen letztes Jahr 95 Prozent der Immobilienkredite. Es steht uns hier noch einiges bevor. Die Regierung von Barack Obama versucht, alle Probleme über Staatsschulden zu lösen, und übernimmt sich dabei.
US-Finanzminister Timothy Geithner hat jüngst erklärt, dass die USA immer das höchstmögliche Rating haben werden.
Solange die Ratingagenturen nur in Amerika sitzen, mag das stimmen, aber es besagt nichts. Die Unterschiede zwischen den USA und Griechenland sind kleiner, als viele denken. Die Vereinigten Staaten werden in zwei Jahren eine Schuldenquote von 100 Prozent haben und in diesem Jahr ein Budgetdefizit von etwa elf Prozent aufweisen. Das ist unglaublich für ein Land, das bis vor Kurzem noch als stabile Basis der westlichen Welt galt.
Kann man sich überhaupt auf die Noten der Ratingagenturen verlassen?
Nein. Lehman Brothers hatte eine Woche vor dem Untergang noch die überaus positive Note "A+" von der Agentur S&P. Alle großen Investmentbanken hatten Bewertungen im A-Bereich, auch die 60 Prozent, die 2008 untergingen. Die Probleme wurden von den Ratingagenturen nicht erkannt – oder verschwiegen.
Wie schätzen Sie die Lage bei den Banken insgesamt ein?
In Europa ist erst die Hälfte der Abschreibungen auf toxische Papiere bilanziell anerkannt worden. Die andere Hälfte steht noch aus. Insofern stehen uns noch erhebliche Schritte bis zur bilanziellen Wahrheit bevor. Die Zentralbank hilft den Banken durch niedrige Zinsen, Fett anzusammeln. Die Frage ist, ob es den Banken schnell genug hilft. Sie versuchen, gerade so mit der Nasenspitze über Wasser zu bleiben.
Also Hände weg von Bankaktien?
Nein. Diese Sachverhalte sind ja bekannt und eingepreist. Die Anleger sollten sich aber genau anschauen, welche Bankaktien sie kaufen. Sie sind nicht alle gleich.
Welche Banken haben bessere Chancen als andere?
Das will ich nicht beantworten, weil ich für das Land Bayern im Aufsichtsrat der HypoVereinsbank sitze und als parteiisch gelten könnte.
Ihre Beschreibung der Lage der Banken ist exakt wie jene im Japan der 90er-Jahre. Drohen uns also dieselben Verhältnisse - jahrzehntelange Deflation und wirtschaftliche Stagnation?
Die Gefahr ist tatsächlich vorhanden. Für wahrscheinlicher halte ich es aber, dass wir die Kurve kriegen.
Warum so optimistisch?
Wegen der energischen Konjunkturpolitik, die gemacht wurde. Wir haben weltweit für 1400 Milliarden Euro Konjunkturpakete und für 7000 Milliarden Euro Bankenrettungspakete. Die Massivität dieser Intervention hat uns einen neuen Aufschwung beschert. Das ist den Japanern in einer ähnlichen Situation nicht gelungen.
Inflation fehlt in Ihren Szenarien. Weshalb?
Viele Leute fürchten, dass wir angesichts der hohen Staatsverschuldung und des Überschwemmens der Märkte mit Zentralbankliquidität eine Inflation bekommen. Ich halte diese Furcht für nicht gut begründet. Auch Japan wurde mit Liquidität überschwemmt und rutschte in die Deflation. Eine deflationäre Wirtschaft hat mehr Geld in Relation zum Sozialprodukt als eine inflationäre, weil die Geldhaltung wegen der fallenden Preise reale Zinsen bringt.
Sie haben sich nun doch zu einigen finanzrelevanten Prognosen hinreißen lassen. Gibt es in Ihrem privaten Umfeld Leute, die von Ihnen solche Tipps haben wollen?
Das gibt es häufig, und dann sage ich immer: Sie fragen den Falschen.
Wird wenigstens unter Ökonomen über solche Themen geredet?
Wir reden natürlich viel über Marktentwicklungen, aber nie unter dem Aspekt der Geldanlage.
Wir haben den Eindruck, dass Ihnen Geld wenig bedeutet.
So ist es nun auch wieder nicht. Ich bin natürlich froh, dass ich mein Auskommen habe. Geld interessiert mich vor allem wissenschaftlich, als Transaktionsmittel, als Wertaufbewahrungsmittel, als Recheneinheit, als Lenkungsinstrument, das Millionen Menschen zu einem sinnvollen Ganzen koordiniert. Das ist wenig emotional, aber nun mal mein Beruf.
Bert Rürup, wie Sie Professor und prominenter Volkswirt, scheint das anders zu sehen. Er wechselte nach seiner Pensionierung zum Finanzvertrieb AWD, was sein Einkommen nach eigener Aussage merklich gehoben hat. Haben Sie Ähnliches vor?
Herr Rürup kann das selbstverständlich machen, ich werde das nicht tun. Ich werde mich auf die Wissenschaft zurückziehen, wenn ich nicht mehr für das Ifo-Institut tätig bin, oder meinen Garten pflegen. Am liebsten würde ich im Garten sitzen, schreiben und ab und zu mal ein Unkraut zupfen.