Der Chef des ifo Instituts über die Ohnmacht der Volksvertreter in der Euro-Krise, die gefährliche Machtfülle der Europäischen Zentralbank und verlorene Staaten in der Euro-Zone.
Wenn Hans-Werner Sinn über den Euro spricht, lässt er sich Zeit. Er macht Pausen, denkt nach. So lange, bis sich auch die schwierigsten Probleme in sein ökonomisches Koordinatensystem einfügen lassen. Sein Glaube an die Marktwirtschaft ist unerschütterlich - das wird im Verlauf des fast zweistündigen Gesprächs in Frankfurt schnell klar. Die Gedanken des ifo Chefs werden in der Ökonomie-Welt längst nicht überall geteilt. Manchmal sind sie provozierend, manchmal überzogen, aber oft auch anregend.
Herr Sinn, Sie waren immer ein großer Kritiker der Rettungsaktionen der EZB. Nun scheint sich die Lage in Europa zu entspannen. Gibt der Erfolg EZB-Chef Draghi nicht recht?
Ich sehe nicht, wieso man die Beruhigung der Finanzmärkte aufgrund einer Umverteilung der Investitionsrisiken von den Anlegern zu den Steuerzahlern als Erfolg bezeichnen kann. Im Übrigen liegt die Realwirtschaft der Südländer noch am Boden. In Spanien befindet sich die Industrieproduktion 30 Prozent unter dem Vorkrisenniveau. Das ist so schlimm wie in der Weltwirtschaftskrise.
Was sollte die Politik oder die Notenbank unternehmen?
Das fundamentale Problem für die Südländer war die EU-Osterweiterung in den Jahren 2004/2005. Der Eintritt der neuen Niedriglohnländer in den Binnenmarkt hat zu einem Fiasko für die Südeuropäer geführt. Die Löhne in Spanien sind dreimal so hoch wie die in Polen.
Das heißt, die Löhne dort müssen nur kräftig genug sinken, dann überwinden wir die Krise?
Ja, aber die Gesellschaft kann daran zerbrechen. Die Anpassungsprozesse, die in Südeuropa notwendig sind, werden zehn bis 15 Jahre dauern, wenn sie überhaupt je zum Ziel führen. So lange wird der Norden gezwungen sein, den Süden über Wasser zu halten. Meine Prognose: Wenn wir so weitermachen wie bisher, werden wir einen quälend langen Anpassungsprozess erleben, der in Siechtum und einer Transferunion mündet.
Das heißt, wir haben den Tiefpunkt der Krise nicht überschritten?
Alles hängt von der Bereitwilligkeit der Retter ab, die Portemonnaies weiter offen zu halten. Das Geld allerdings wirkt nur wie ein Schmerzmittel bei einer schweren Krankheit. Es stellt sich das Gefühl ein, die Krankheit sei überwunden. Aber in Wahrheit wird die Heilung durch das Schmerzmittel nicht beschleunigt, sondern eher noch verlangsamt.
Ein wirklicher Schock in diesen Ländern wäre besser?
Ich meine, es wäre besser, die Euro-Zone neu zu ordnen. Wir brauchen einen großen Schuldenschnitt für Banken und Staaten, und dann sollten einige Länder die Möglichkeit erhalten, die Währungsunion zeitweilig zu verlassen. Griechenland ist aus meiner Sicht verloren, skeptisch bin ich vor allem bei Spanien und Portugal. Für Italien gibt es Hoffnungen.
Viele Experten, auch die EZB, warnen vor Deflation. Drohen uns japanische Verhältnisse?
Zunächst einmal: Gerade beim Thema Deflation zeigt sich die widersprüchliche Politik der EZB. Als in der Zeit der Blase die südeuropäischen Länder hohe Inflationsraten verzeichneten, die weit über dem EZB-Stabilitätsziel von zwei Prozent lagen, betonten EZB-Vertreter, dass es auf die durchschnittliche Inflationsrate der Euro-Zone ankomme. Jetzt geht's andersrum. Die Blase in Südeuropa ist geplatzt, und Draghi beklagt, dass in einigen Ländern eine Deflation droht. Das kann ich nicht nachvollziehen.
Aber auch die durchschnittliche Inflationsrate liegt bei 0,5 Prozent.
Das liegt großenteils an der Euro-Aufwertung und dem Fall der Rohstoffpreise. Die darum bereinigte Kerninflationsrate ist immer noch beträchtlich. Die EZB sucht nach Rechtfertigungen für eine Politik des billigen Geldes, die den überschuldeten Ländern fiskalisch unter die Arme greift.
Das heißt, aus Ihrer Sicht sollte die EZB nichts unternehmen?
Es ist nicht ihre Aufgabe, fiskalische Regionalpolitik zu betreiben. Die Retterei der EZB und der fiskalischen Hilfsprogramme hat die Zinslast der sechs Krisenländer bereits dramatisch gesenkt. Nach meiner Schätzung kam es zu einer Senkung der Zinsen auf die Nettoauslandsschulden um rund drei Prozent. Das entspricht einer Entlastung von gut 200 Milliarden Euro in den ersten fünf Krisenjahren, also von 2008 bis 2012.
Die Südländer argumentieren umgekehrt: Sie glauben, sie müssten deshalb eine Art Strafzins zahlen, weil die Investoren die Währung als Ganzes infrage stellen. Auch die EZB begründet ihr Handeln mit der Fragmentierung der Kreditmärkte, also den unterschiedlichen Zinsniveaus ...
Das sind Worthülsen. Die Differenzierung der Zinsen nach der Bonität der Schuldner ist das Lebenselixier der Marktwirtschaft. Wer sich zu stark verschuldet, muss höhere Zinsen zahlen und begrenzt daraufhin seine Verschuldung. Ohne die Fragmentierung der Kreditmärkte nach der Bonität würde jedes marktwirtschaftliche System kollabieren.
Aus Sicht der EZB kommt der von ihr gewünschte Niedrigzins nicht dort an, wo er am meisten gebraucht wird. Einen "gestörten Transmissionsmechanismus" nennt die EZB das ...
Auch das ist nichts als vordergründige Semantik zur Verklärung der regionalen Fiskalpolitik, die von der EZB betrieben wird. Solche Begründungen beleidigen den gesunden Menschenverstand des Ökonomen.
Aber müssen es gleich sechs Prozentpunkte Zinsunterschied sein?
Das ist schon sehr viel. Aber je wahrscheinlicher der Konkurs, desto höher der Zins. Wenn man die Zinsen nicht mehr tragen kann, muss eben der Schuldenschnitt kommen. So ist es auch in Amerika oder der Schweiz. Deren Staaten und Kantone können in Konkurs gehen, weil ihnen keiner helfen würde, schon gar nicht die Notenbanken. Genau deshalb passen die Anleger auf, dass die Verschuldung tragbar bleibt. Wenn wir das nicht wollen, müssen wir die Marktwirtschaft abschaffen.
Es ist aber nicht nur der spanische Staat, der mehr Zinsen zahlen muss, sondern auch spanische Firmen mit möglicherweise guter Bonität leiden unter höherer Zinslast. Ein klarer Wettbewerbsnachteil ...
Die Behauptung, sie hätten eine gute Bonität, wage ich zu bezweifeln. Allein die Tatsache, dass sie in einem Staat sitzen, der Schwierigkeiten hat, verschlechtert ihre Kreditwürdigkeit. Denn der schwache Staat wird die Firmen und ihre Kunden steuerlich belasten müssen. Unternehmen und Staat sitzen in einem Boot.
Sie setzen auf die disziplinierende Kraft des Marktes. Aber wie die Krise gezeigt hat, kann sich der Markt irren, mit verheerenden Folgen.
Dass Märkte auch übertreiben können, irrational sein können, ist klar. Aber die politischen Entscheidungsprozesse sind bestimmt nicht besser. Auch das lehrt die Geschichte.
Nun muss man Draghi zugutehalten, dass er das aktuelle Programm zum Staatsanleihen-Aufkauf (OMT) zwar angekündigt, aber bislang nicht einen einzigen Bond gekauft hat. Trotzdem hat er die Märkte beruhigt ...
OMT ist die Fortsetzung des ersten SMP-Programms. Und hier hat die EZB Staatsanleihen im Volumen von 223 Milliarden Euro gekauft.
Womit die EZB, wie ihr Gewinn zeigt, sehr gute Geschäfte macht.
Nun, erstens ist der Schadensfall noch nicht eingetreten, und zweitens gelang es der EZB, die Risiken auf die fiskalischen Rettungsschirme zu verlagern, die als Ersatz angefordert wurden. Das ist ja das Problem der ganzen Retterei. Die EZB tritt in Vorlage, und anschließend wird sie mit den fiskalischen Rettungspaketen selber gerettet. Die Parlamente stehen vor alternativlosen Entscheidungssituationen und werden zu Erfüllungsgehilfen des EZB-Rates degradiert.
Das Bundesverfassungsgericht hat OMT scharf kritisiert. Ist die Argumentation schlüssig?
Ja, sie ist schlüssig. Wir haben den Rettungsschirm ESM mit seinem Aufkaufprogramm und das OMT-Programm. Beide sind ökonomisch fast identisch. Nur ist das eine begrenzt und vom Bundestag kontrolliert, während das andere unbegrenzt und vom EZB-Rat kontrolliert wird. Man muss kein Jurist sein, um zu verstehen, dass das nicht zusammenpasst.
Kann ein Gericht darüber entscheiden, ob ein Zins für einen Staat angemessen ist?
Nein, das kann es nicht. Aber auch die EZB kann es nicht.
Derzeit überprüft die EZB die Bücher der größten Banken Europas, um sie später auch zu beaufsichtigen. Eine richtige Entscheidung?
Nein. Die EZB ist selbst der größte Gläubiger der Krisenbanken Südeuropas. Wenn sie die Abwicklung für diese Institute fordert, dann trägt sie selber die Abschreibungsverluste. Die EZB hat ein Interesse daran, die toxischen Anlagen der Banken in die Zeit der funktionierenden Bankenunion hineinzuschmuggeln, wo sie selbst wirksam gegen Abschreibungsverluste geschützt ist.
Ihre Skepsis gegenüber der EZB scheint keine Grenzen zu kennen.
Das Bundesverfassungsgericht bescheinigt der EZB den Missbrauch ihrer Macht. Es spricht von "Macht-Usurpation". Es gibt allen Anlass, misstrauisch zu sein.
Herr Sinn, vielen Dank für das Interview.
Das Gespräch führte Jens Münchrath.