Von Hans Bentzien
Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn wirft der EZB im Interview vor, ihr geldpolitisches Pulver vorschnell verschossen zu haben. Jetzt, wo die Konjunktur eine Lockerung notwendig mache, habe die Zentralbank keine Munition mehr.
Herr Professor Sinn, die Inflationsrate im Euroraum ist im August auf 0,3 Prozent gesunken. Für wie ernst halten sie die Deflationsrisiken?
Hans-Werner Sinn: Noch ist das keine Deflation, sondern Inflation, und die Kernin-flationsrate liegt deutlich höher. Hier zeigt sich im Wesentlichen der Effekt der fallenden Energieeinfuhrpreise. Das ist nichts, was in irgendeiner Weise beunruhigend ist.
Aber die Inflation im Euroraum sinkt nun schon seit drei Jahren…
Das kann man auch gut finden. Immerhin ist die EZB verpflichtet, für Preisstabilität zu sorgen.
Die EZB definiert Preisstabilität aber mir knapp 2 Prozent Inflation …
Ich habe ja Verständnis dafür, dass die EZB knapp 2 Prozent Inflation anstrebt, um die Änderung der relativen Preise zu erleichtern. Aber dann soll sie bitte nicht von Preisstabilität sprechen. Ich mag diese semantischen Verdrehungen nicht.
Wenn wir uns darauf einigen, dass knapp 2 Prozent Inflation als Ziel der EZB akzeptabel sind, sind es dann auch groß angelegte Wertpapierankäufe, um dieses Ziel zu erreichen?
Nein – denn das ist keine Antideflationspolitik. Das ist einfach eine fiskalische Ret-tungspolitik. Geldpolitik zu machen heißt Zinsen zu senken und Liquidität im Sinne kurzfristiger Kredite an die Banken gegen erstklassige Sicherheiten bereit zu stellen. Wenn die EZB jetzt private Schuldtitel aufkauft, dann betreibt sie direkte Kredit-finanzierung maroder Firmen und Staaten, vor allem in Südeuropa. Es werden Kreditrisiken auf die Steuerzahler übertragen. Das ist jenseits dessen, was das Mandat der EZB hergibt, und das verbietet auch der Vertrag von Maastricht. Wenn man so etwas will, dann muss man diesen Vertrag ändern.
Und wenn eine Antideflationspolitik nur noch über solche Wertpapierkäufe möglich ist? Die EZB hat ihre Möglichkeiten zur Senkung von Leitzinsen schließlich ausgereizt.
Dann hat die EZB ihr Pulver verschossen.
Ein Zentralbank, die zugibt, dass sie nicht mehr handlungsfähig ist – wäre das nicht ein verheerendes Signal?
Das entzieht sich meine Beurteilung. Ich bin kein Psychologe, sondern Ökonom. Irgendwann ist man bei null, und dann ist Ende. Jetzt rächt es sich eben, dass die EZB ihr Pulver viel zu früh verschossen hat.
Manche Ökonomen sagen genau das Gegenteil – dass die EZB zu zögerlich war. Können sie das nachvollziehen?
Nein, denn die EZB ja frühzeitig gehandelt. Sie hat 2008 richtigerweise Liquidität zur Verfügung gestellt. Aber als die Wirtschaft 2009/2010 wieder anzog, da hat sie den Ausstieg aus dieser Liquiditätspolitik nicht gefunden. Deswegen hat sie jetzt, wo eine geldpolitische Reaktion auf die konjunkturelle Abschwächung nötig wäre, keine Munition mehr, auf die sie legitimerweise zugreifen darf.