Südeuropa leidet weiter unter Stagnation und hoher Arbeitslosigkeit. Mit frischem Geld will die Europäische Zentralbank (EZB) jetzt schwache Banken entlasten, Inflation anheizen, die Konjunktur beleben. Die neue griechische Regierung fordert derweil vehement einen Schuldenschnitt. Hat die Währungsunion noch eine Zukunft? Fragen an den Chef des Ifo-Instituts Hans-Werner Sinn.
VDI nachrichten: Herr Sinn, die EZB hat beschlossen, Anleihen der Eurostaaten zu kaufen. 80 % der Käufe werden die nationalen Zentralbanken übernehmen. Federt das die Folgen für den deutschen Steuerzahler ab?
Sinn: Ja, denn die nationalen Zentralbanken haften bei den 80 % für die von ihnen angekauften Staatsanleihen. Verluste fallen damit auf den betreffenden Staat beziehungsweise seine Gläubiger zurück, die das natürlich überhaupt nicht gut finden.
Aber 20 % sind in gemeinschaftlicher Haftung ?
Ja, und 12 % davon sollen auf Käufe internationaler Organisationen der EU entfallen und die restlichen 8 % der Käufe sollen von der EZB durchgeführt werden. Ich vermute, dass man die 12 % vor allem der Europäischen Investitionsbank (EIB) zur Verfügung stellen wird, die damit das Europäische Investitionsprogramm in Höhe von 315 Mrd. € hebeln soll.
Damit wäre die Finanzierung des Europäischen Investitionsprogramm, die ja zunächst umstritten war, gesichert?
Die Finanzierung des Investitionsprogramms, das das Doppelte des EU-Budgets umfasst, ist in der Tat durch die jüngsten Maßnahmen der EZB gesichert. Aber die Finanzierung erfolgt nicht durch Umstrukturierungen im Haushalt oder durch steuerliche Maßnahmen sondern mit Hilfe der Druckerpresse. Die Verschuldung taucht nicht in den nationalen Budgets auf – hier entsteht ein Schattenhaushalt.
Das ist ein bemerkenswerter Vorgang, der auch rechtliche Relevanz hat, denn auf diese Weise werden alle Schranken für eine Staatsverschuldung – wie der Stabilitäts- und Wachstumspakt, der Fiskalpakt oder das deutsche Grundgesetz – ausgehebelt. Im Übrigen erleben wir den Einstieg in Eurobonds.
Die EZB, will mit noch mehr Geld die Konjunktur in Euroland ankurbeln. Sie hofft, dass die Inflation steigt. Klappst das?
Ich glaube schon. Die EZB hat das Ziel, eine höhere Inflation zu erreichen. Dem wird sie näher kommen, indem sie den Banken Staatspapiere abkauft, und die Banken werden das Geld anlegen müssen.
Aber wo?
Unter anderem in Investitionen im Ausland. Die Folge: Der Euro wertet weiter ab – ebenfalls ein Ziel der EZB. Nur vertritt sie das nicht offensiv nach außen, um nicht die Amerikaner und Japaner, deren Währungen dann aufwerten, zu Gegenmaßnahmen zu reizen.
Über den kräftig abwertenden Euro sollen die südlichen Länder wettbewerbsfähig gemacht werden. Und zwar nicht nur gegenüber den Nicht-Euro-Ländern, sondern auch gegenüber den Nord-Euroländern, indem die Preise in diesen Ländern nachinflationiert werden. Das Problem der Südländer ist ja, dass der Euro sie in eine inflationäre Kreditblase getrieben hat, die sie ihrer Wettbewerbsfähigkeit beraubte.
Es wird aber Zeit brauchen bis die Abwertung auch zu mehr Inflation führt?
Nein. Der abwertende Euro bewirkt sofort und unmittelbar, dass mehr Euros hingeblättert werden müssen, um im Ausland einkaufen zu können – abgesehen von Rohstoffen, vor allem vom Öl, dessen Preisverfall nur vorübergehend den Wechselkurseffekt mehr als kompensiert. Wir werden also eine importierte Inflation bekommen.
Zudem gelingt es auch der Exportindustrie, höhere Preise durchzusetzen – ohne Absatzeinbußen im Ausland zu erleiden. Der erfolgreiche Außenhandel sorgt für höhere Kosten, dem sich auch die binnenwirtschaftlich orientierten Sektoren nicht entziehen können. Zum Beispiel werden die Exporteure mehr Mitarbeiter benötigen und bereit sein, höhere Löhne zu zahlen. Das bringt auch andere Sektoren in Zugzwang.
Also müssen wir uns auf steigende Inflationsraten einstellen?
Ja. Aber neben dem Schüren von Inflation gibt es noch einen weiteren Punkt, den die EZB im Fokus hat. Und ich glaube, der scheint ihr mindestens ebenso wichtig zu sein: Die EZB will die Banken Südeuropas retten, indem sie ihnen im Rahmen ihres Programms als toxisch empfundene Staatspapiere abkauft.
Das hat auch folgenden Vorteil: Die Staaten, deren Papiere verkauft werden, können neue Wertschriften nachschieben, ohne dass sich der Marktzinssatz verändert.
Scheint doch alles gut durchdacht...
Ja, ohne Zweifel. Der Haken ist nur, dass die EZB kein Mandat für eine Wechselkurspolitik hat. Außerdem stellt sich die Frage, ob sie überhaupt Inflation erzeugen darf. Der Maastrichter Vertrag verlangt Preisstabilität. Die EZB hat sich dagegen ein Inflationsziel verpasst. Es lautet auf knapp unter 2 %.
Um es zu erreichen wäre aus heutiger Sicht ein Inflationsanstieg um 2 Prozentpunkte erforderlich. Das bedeutet für die Sparer, die ohnehin schon unter der Nullzinspolitik leiden, weitere erhebliche Vermögensverluste.
Ein Problem vor allem in Deutschland?
Ja, Deutschland ist besonders betroffen, weil die meisten Gelder über Versicherungen und Banken als Finanzanlagen und damit inflationsgefährdet angelegt sind. Erste Skeptiker zu den jüngsten EZB-Beschlüssen befinden sich bereits wieder auf dem Weg nach Karlsruhe.
Ist der Ankauf von Staatsanleihen der Offenbarungseid der EZB?
Nein, aber das war in ihrem Maßnahmenpaket die letzte Kugel, die sie zur Verfügung hatte. Ich vermute, dass diese Kugel ihr Ziel nicht verfehlen wird.
Fraglich ist aber ob der Beschuss ausreicht, denn der Weg zur Wettbewerbsfähigkeit Südeuropas ist weit.
Woran liegt das?
Das eigentliche Problem sind die Preise: Länder wie Griechenland müssten, um nachhaltig wettbewerbsfähig zu werden, ihre Preise im Vergleich zum Durchschnitt in der Eurozone um ca. 25 % bis 30 % senken. Gleichzeitig müssten die deutschen Preise um 20 % ansteigen.
Dass das zu bewerkstelligen ist, wage ich zu bezweifeln. Auf alle Fälle gewinnen wir durch den EZB-Beschluss Zeit und Luft. Der Euro kann sich wieder einige Jahre weiterschleppen, ohne dass an seinen Regeln Substanzielles geändert wird.
Wird die Zeit auch genutzt, um die Krisenländer zu reformieren?
Notwendig wäre das, aber passieren wird es nicht. Wenn die EZB mit der Druckerpresse Entlastung bietet, sieht sich die Politik vom Reformdruck befreit. All die Sprüche, wie „Geld für Reformen“ haben sich in der Vergangenheit nicht als wahrhaftig erwiesen.
Die neue griechische Regierung fordert einen Schuldenschnitt. Die Geber wehren sich strikt. Sehen Sie einen Lösung?
Das ist schwierig. Viele südliche Eurostaaten können ihre Schulden nicht zurückzahlen. Ihnen fehlen die Mittel. Unter dem Aspekt von Marktzinsen wären sie längst pleite. Zudem wurden Kredite oftmals verlängert. Das alles kommt bereits einem Schuldenschnitt gleich. Darunter leiden die Geldgeber, die sich auf Verträge verlassen haben.
Leiden tun aber auch die Sparer, die die Nullzinspolitik der EZB erdulden müssen. In meinem Buch „The Euro Trap“ fordere ich daher eine große Schuldenkonferenz. Auf ihr sollte über Schuldenschnitte und eine Verkleinerung der Eurogruppe geredet werden.
Können Sie sagen, wie viel die Niedrigzinspolitik deutsche Anleger bis heute gekostet hat?
Wären die Zinsen noch auf dem Stand vom vierten Quartal 2007 – also vor der Krise – dann wären die deutschen Anleger Ende 2014 um 300 Mrd. € reicher gewesen. Die niedrigen Zinsen kosten uns jährlich über 60 Mrd. €.
Natürlich ist das nicht ausnahmslos, aber doch größtenteils, der Niedrigstzinspolitik der EZB geschuldet, weil dabei auch Auslandsguthaben berücksichtigt sind. Auch hier zeigt sich, dass ein Schuldenschnitt bereits verdeckt stattgefunden hat.
Wäre ein offener Schuldenschnitt nicht ehrlicher gewesen?
Das ist in der Tat die Frage, dann könnte man nämlich zu marktgerechten Zinssätzen zurückkehren. Vor allem würde das auch die Schuldnerländer – und ich spreche nicht nur von Griechenland – veranlassen, nicht mehr so viele neue Schulden aufzunehmen. Denn das verschärft das Problem eher noch.
Es geht nicht nur darum, Altschulden abzubauen, auch dürfen keine neuen Schulden aufgebaut werden. Doch dazu verleiten die von der EZB künstlich niedrig gehaltenen Zinsen nur zu sehr. Aber die Stunde der Wahrheit nähert sich.
Wie meinen Sie das?
Wir müssen in einer Schuldenkonferenz über den Erlass mancher Schulden reden. Wenn ein Schuldenschnitt passiert, so muss er zwingend mit einer Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit einher gehen. Die Wettbewerbsfähigkeit aber lässt sich – in dem Maße, wie sie notwendig ist – nur mit Hilfe einer nationalen Währung wieder herstellen. Und zwar durch Abwertung, die einem einzelnen Land im Eurowährungsverbund ja nicht möglich ist. Eine Abwertung verbilligt bekanntlich die eigenen Produkte am internationalen Markt. Ich bin daher überzeugt, dass die Eurozone neu aufgestellt werden muss.
Sie denken an den Austritt einzelner Länder?
Es gibt Länder wie Irland die sich in der Eurozone durch eine massive interne Abwertung, also eine Senkung ihrer Produktpreise relativ zum Rest der Eurozone, einen Verbleib im Währungsraum gesichert haben. Es gibt aber auch Staaten, die das nie schaffen werden. Da müsste man über einen Austritt verhandeln.
An welche Länder denken Sie?
In erster Linie an Griechenland. Kritisch sehe ich auch Spanien. Beide Länder haben seit 2007 einen Einbruch der Industrieproduktion um ca. 30 % erlitten. Die Industrieproduktion ist so entscheidend, weil sie im internationalen Wettbewerb steht. Und in diesem Sektor zeichnet sich noch immer kein Aufschwung ab.
Ein anderes Problem bedrückt die Europäer: der Konflikt in der Ukraine. Er hat auch ökonomische Auswirkungen durch die Wirtschaftssanktionen des Westens gegen Russland und umgekehrt. Wie sehr leidet die Wirtschaft darunter?
Im vergangenen Jahr schlugen die Sanktionen spürbar auf das deutsche gesamtwirtschaftliche Wachstum durch. Sie kosteten etwa einen halben Prozentpunkt Wachstum.
Aber wir sehen, dass sich die Unternehmen in der Regel neu positioniert haben. Für die Zukunft müssen wir also mit weniger negativen Auswirkungen aus dieser Richtung rechnen.
Nach der jüngsten Zuspitzung der Ukraine-Krise werden zusätzliche Sanktionen verlangt. Zudem leidet Russland unter dem Ölpreisverfall. Was ist als mögliche russische Reaktion zu erwarten?
Wirklich gefährlich würde es für Deutschland, wenn die Russen sich zu einem Lieferstopp für Erdöl und Erdgas entschließen würden. Rund ein Drittel ihres Verbrauchs bezieht die Bundesrepublik aus Russland.
Im Moment gibt es zwar ein Überangebot dieser Rohstoffe am Markt, sodass die Lage derzeit weniger dramatisch wäre. Und Russland würde sich selbst schaden, denn die Hälfte seiner Exporte gehen in die EU. Doch wenn sich der Konflikt weiter zuspitzt, ist nichts unmöglich.
Der Ölpreis ist seit Mitte 2014 um 50 % gefallen. Sinkt er noch weiter?
Wir befinden uns mittlerweile bereits in der Nähe des tiefsten Punktes der Ölpreise in den letzten zehn Jahren. Das Ende des Ölpreisverfalls dürfte wohl in etwa erreicht sein.
Nicht nur der Ölpreis, sondern auch der schwache Euro treibt die konjunktur in Europa an. Davon profitieren vor allem exportintensive Euroländer wie Deutschland. Ein Grund zur Freude?
Ein schwieriges Thema. Natürlich profitieren die deutschen Exporteure, was auch die Konjunktur anschiebt. Andererseits braucht Deutschland eher eine Auf- denn eine Abwertung.
Warum das?
Wir haben bereits jetzt Leistungsbilanzüberschüsse in Höhe von knapp 8 % des Bruttoinlandprodukts. Das birgt Gefahren. Der hohe Überschuss wird ja vornehmlich verwendet, um im Ausland Finanztitel zu erwerben.
Was ist schlimm daran?
Denken Sie an die letzte Finanzkrise, in der viel Geld im Ausland verloren wurde. In Ländern mit hoher Inflation wurde das Geld nämlich zum Teil weginflationiert. Exporte sind also nur dann ein Gewinn für die Volkswirtschaft, wenn man dafür sofort oder später Importe kaufen kann, die konsumiert werden.
Wie geht es mit dem Euro weiter?
Er wird sich noch weiter verbilligen. Das ist das erklärte Ziel der EZB. Mit der Inszenierung der Geldschwemme tut sie alles, um dieses Ziel zu erreichen. Auf einer Investorenkonferenz war die Mehrheit der Teilnehmer jüngst der Auffassung, dass der Euro gegen Dollar erst unter 1,10 $ aufschlagen wird.
Ein weiterer Konjunkturtreiber ist der private Konsum in Deutschland.
Ja, der private Konsum wird sich – wie übrigens auch die Bauinvestitionen – weiterhin positiv entwickeln. Eine Blasenbildung sehe ich am Bau aus heutiger Sicht noch nicht.
Mit zunehmender konjunktureller Beschleunigung dürfte aber auch die Investitionstätigkeit der Unternehmen steigen. Dass wir schon seit etwa 15 Jahren unter einem chronischen Mangel an Ausrüstungsinvestitionen leiden, liegt vor allem an der schwachen Bevölkerungsentwicklung.
Hinzu kam lange Zeit die mangelnde preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Arbeitnehmer. Die wurde durch die Schröderschen Reformen wieder ins Lot gebracht.
Die Investitionen werden also endlich wieder zunehmen?
Wie gesagt, aufgrund der Niedrigstzinspolitik dürfte der Bau weiter florieren. Günstig sind auch die Absatzchancen der Unternehmen. Aber ich befürchte, dass aufgrund der Geldpolitik der EZB weiter Gelder ins Ausland abfließen. Dann stehen sie nicht für Ausrüstungsinvestitionen zur Verfügung. Massiv beeinträchtigt wird die Investitionsneigung der Unternehmen durch den Mindestlohn, die Rente mit 63 sowie die holprige Energiewende. Außerdem droht Deutschland zum Bürokratisierungsmonster zu werden.
Die Weltwirtschaft wächst nur noch schwach. Sieht es in den Ländern der Eurozone 2015 besser aus?
Ein nennenswertes Wachstum der Weltwirtschaft ist in der Tat nicht in Sicht. China bereitet uns Sorgen. Die dortige Immobilienblase droht zu platzen. Das Wachstum dürfte unter 7 % abrutschen. In Russland sieht es düster aus und auch mehrere Schwellenländer befinden sich in der Krise.
Einen Lichtblick stellt die wirtschaftliche Entwicklung in den USA dar. Dort sehe ich auch noch kein Ende des Aufschwungs. In Europa werden die Maßnahmen der EZB für einen konjunkturellen Stimulus sorgen, der uns zunächst vor Katastrophenszenarien schützen sollte.
Konkret: Mit welchem Wachstum rechnen Sie hierzulande?
Für das laufende Jahr erwarten wir derzeit 1,5 % Wachstum – wie 2014. Für das kommende Jahr wage ich noch keine Prognose. Da fragen Sie mich bitte zur Jahresmitte noch einmal.