Ökonomische Effekte der Migration

Wie die Einwanderung nach Deutschland derzeit läuft, läuft sie falsch und ist ein großes Verlustgeschäft. Wir brauchen endlich eine ideologiefreie und nicht vom Streben nach politischer Korrektheit getriebene Debatte über die Migration.
Autor/en
Hans-Werner Sinn
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.12.2014, S. 18

Deutschland erlebt derzeit den Migrationssturm, den ich im März 2011 in dieser Zeitung vorausgesagt habe. Immerhin sind allein in diesem Jahr wahrscheinlich netto etwa eine halbe Million Menschen aus dem Ausland zugewandert. Das lässt den Anteil der im Ausland geborenen Bevölkerung Deutschlands, der im Jahr 2012 mit 13,3 Prozent schon deutlich über den entsprechenden Werten der Vereinigten Staaten, Frankreichs, Großbritanniens oder Italiens lag, noch weiter steigen. In kein anderes Land der Welt außer die Vereinigten Staaten von Amerika wandern derzeit so viele ein wie nach Deutschland.

Die Migranten kommen vor allem aus den südeuropäischen Krisenländern, aus Syrien und aus den exkommunistischen Ländern in Osteuropa, für die kürzlich die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit gewährt wurde. Es ist bemerkenswert, dass von den früher nach Westeuropa gewanderten Türken derzeit mehr in ihr Heimatland zurückgehen als von dort kommen. Zusätzlich wandern Deutsche per Saldo aus Deutschland aus, netto etwa 20.000 im Jahr, wovon die meisten in die Schweiz gehen. Dabei dürfte es sich vor allem um besser ausgebildete Menschen handeln.

Deutschland zieht indes nicht gerade die am besten ausgebildeten Immigranten an. Während nach einer OECD-Studie der Anteil der Immigranten mit Hochschulabschluss in Kanada und Großbritannien etwa bei der Hälfte und in den Vereinigten Staaten bei einem Drittel liegt, beträgt er in Deutschland gerade mal ein Fünftel. Wie Italien und Österreich belegt Deutschland im Hinblick auf die Qualifikation der Zuwanderer einen der letzten Plätze der Migrationsstatistik.

Deutschland hat gar keine andere Wahl

Zu den EU-Migranten kommen zunehmend Asylbewerber, die der wirtschaftlichen Krise in den Revolutionsländern Nordafrikas und dem Krieg im Nahen Osten entfliehen wollen. Insgesamt sind dieses Jahr etwa 170.000 Asylbewerber gekommen. Die Bereitschaft der Bevölkerung zur Aufnahme solcher Massen ist begrenzt, wie Pegida und andere Protestbewegungen zeigen. Doch hat Deutschland gar keine andere Wahl, als immer mehr Migranten hereinzulassen, wenn es den eigenen Bevölkerungsschwund auch nur halbwegs ausgleichen will.

Allerdings kann man sich auch nicht gut vorstellen, dass tatsächlich so viele kommen, wie rechnerisch nötig wären, um den Generationenvertrag zu erfüllen, der im umlagefinanzierten Rentensystem angelegt ist. Dazu ist die Verwerfung der deutschen Alterspyramide zu groß. Die Babyboomer, die um das Jahr 1965 geboren wurden, sind nun etwa fünfzig Jahre alt und werden in 15 Jahren ihre Rente von Kindern einfordern, die es nicht gibt. Außerdem werden sie das Geld aus deutschen und ausländischen Staatspapieren zurückfordern. Auch mit der Rückzahlung dieses Geldes wird es hapern.

Selbst wenn man eine Nettoeinwanderung von circa 200.000 jährlich zulässt, wird Deutschland schon in zwei Jahrzehnten, also 2035, wenn der Berg der Babyboomer in Rente ist, circa 7,5 Millionen mehr Rentner (über 65 Jahre) haben als heute, während die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter (15 bis 64 Jahre) um circa 8,5 Millionen Personen kleiner sein wird. Wollte man die Relation von Alten und Jungen und damit zugleich das relative Rentenniveau und die Beitragssätze zur Rentenversicherung auf dem heutigen Niveau stabilisieren, würden insgesamt 32 Millionen junge Zuwanderer benötigt, die meisten davon wohl aus außereuropäischen Gebieten. Es ist schwer vorstellbar, dass die deutsche Gesellschaft die dafür nötige Assimilationskraft und Toleranz aufbringt.

An Massenimmigration führt kein Weg vorbei

Es rächt sich nun, dass die Politik die Warnungen des wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium und von Wissenschaftlern wie Meinhard Miegel, Kurt Biedenkopf und Herwig Birg, die schon in den achtziger Jahren geäußert wurden, nicht ernst genommen hat. Man hätte damals noch Zeit gehabt, den dramatischen Rückgang der Geburten, der Ende der sechziger Jahre eingesetzt hatte, zu korrigieren, wie es zum Beispiel Frankreich tat. Nun ist es zu spät, es mangelt schon an Frauen im gebärfähigen Alter. An fortgesetzter Massenimmigration führt deshalb kein Weg vorbei.

Aber wenn man eine solche Migration zulassen will, dann muss man sich schon Gedanken darüber machen, welche Wirkungen sie hervorruft und wen man überhaupt haben will. Dafür ist es fundamental, zwei Wirkungskanäle zu unterscheiden, durch die der Wohlstand der ansässigen Bevölkerung beeinflusst wird.

Der erste Kanal betrifft die Arbeitsmärkte. Das Fundamentaltheorem der Volkswirtschaftslehre bezüglich der Migration lautet, dass bei flexiblen Löhnen diejenigen Menschen verlieren, die auf dem Arbeitsmarkt Substitute zu den Leistungen der Migranten anbieten, und diejenigen gewinnen, die Komplemente anbieten. Angesichts der im Durchschnitt nur geringen Qualifikation der bisherigen Zuwanderer nach Deutschland heißt das konkret, dass einfache Arbeiter zu den Verlierern gehören, während besser ausgebildete Menschen und Vermögensbesitzer profitieren. Wie wäre es um das bürgerliche Leben bestellt, wenn nicht Putzkräfte, Pflegekräfte, Gärtner, Restaurantpersonal und andere Dienstleister preisgünstig zur Verfügung stünden. Umgekehrt jedoch rivalisieren einfache Arbeiter mit den Migranten, was sich in Lohndruck und geminderten Arbeitsplatzchancen äußert. Dass Menschen aufbegehren, die sich von Konkurrenz um ihren Arbeitsplatz bedroht sehen, ist nur verständlich.

Immigration führt zu massiven Umverteilungseffekten

Immigration führt auf dem Wege über Marktprozesse aber nicht nur zu massiven Umverteilungseffekten zwischen den verschiedenen Berufsgruppen, sondern im Idealfall auch zu einem Realeinkommensgewinn für die bereits ansässige Bevölkerung in ihrer Gesamtheit. Per Saldo gewinnen die Anbieter von Komplementen nämlich mehr, als die einheimischen Anbieter von Substituten verlieren, weil sich die Migranten auch selbst Konkurrenz machen und somit auch die bereits anwesenden Altmigranten zu den Verlierern einer weiteren Zuwanderung gehören.

Zu den Arbeitsmarkteffekten treten als zweiter Wirkungskanal die fiskalischen Effekte hinzu, die daraus resultieren, dass die Migranten einerseits Steuern zahlen und andererseits öffentliche Leistungen empfangen. Der Sozialstaat verteilt Mittel um von den gutverdienenden, qualifizierten Arbeitnehmern und Vermögensbesitzern zu den geringqualifizierten, wenig verdienenden Arbeitnehmern sowie auch zu nicht erwerbstätigen Personen. Für die Geringqualifizierten wirkt der Sozialstaat daher wie ein Magnet, Hochqualifizierte schreckt er eher ab, weil er von ihnen mehr Steuern verlangt, als er ihnen in Form öffentlicher Leistungen zurückgibt. Die Hochqualifizierten kommen daher eher nicht oder wandern in andere Länder, die weniger stark umverteilen. Die Abwanderung von Deutschen in die Schweiz, Luxemburg oder Großbritannien dürfte dadurch zu erklären sein.

Die wirklich interessante Frage ist, welche Be- oder Entlastung die tatsächlich vorhandenen Migranten für den deutschen Staat mit sich bringen. Das Ifo-Institut hatte dazu im Jahr 2001 unter Beteiligung des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Sozialrecht eine Studie für das Bundesarbeitsministerium erstellt, die die fiskalischen Verhältnisse der in Deutschland ansässigen Migranten auf der Basis des sozioökonomischen Panels des Jahres 1997 erfasste. Für Migranten, die weniger als zehn Jahre in Deutschland blieben, damals die größte Gruppe, ergaben sich jährliche Kosten von etwa 2400 Euro. Günstiger war die Rechnung für Dauermigranten, deren Kinder später in die Rentenversicherung einzahlen. Über alle Migranten berechnet, die nach Deutschland kamen, ergab sich aber immer noch, dass ein Migrant den Staat im Durchschnitt per Saldo im Jahr gut 700 Euro kostete.

Verblüffend ist die Auslegung der Studie

Umso verblüffender ist es, dass vor kurzem eine Studie des Arbeitsmarktforschers Holger Bonin für die Bertelsmann Stiftung einen gegenteiligen Eindruck zu vermitteln schien. In prominenten Internetmedien las man Überschriften wie „Mehr Einnahmen als Ausgaben: Ausländer bringen Deutschland Milliarden“, „Zuwanderer bringen viel mehr, als sie kosten“ oder „Zuwanderer bringen Deutschland Milliarden“. Und tatsächlich hatte Bonin auf Basis des gleichen sozioökonomischen Panels, nun für das Jahr 2012, berechnet, dass Ausländer dem Staat durchschnittlich im Jahr 3300 Euro mehr an Steuern und Beiträgen bringen, als sie an Sozialtransfers inklusive der Ausgaben für Bildung und Förderung kosten.

Bonin betont aber in seiner Studie ausdrücklich, dass die fiskalische Bilanz der Ausländer ins Defizit gerät, wenn man ihnen die allgemeinen Staatsausgaben wie Verteidigung, Infrastruktur, Rechtssystem, Polizeikosten, Kosten der öffentlichen Verwaltung und ähnlichem anteilig zurechnet. Genau so hatte nämlich das Ifo-Institut gerechnet. Da Bonin für diese Kosten keine Zahl nennt, hat das ifo-Institut nun Bonins Rechnungen entsprechend vervollständigt. Nach den Angaben der amtlichen Statistik kommt man für das Jahr 2012 je Kopf der in Deutschland ansässigen Bevölkerung auf Kosten für die von Bonin noch nicht berechneten öffentlichen Leistungen (also die öffentlichen Leistungen ohne die Ausgaben für die Schulen) in Höhe von 5100 Euro pro Einwohner. Geht man davon aus, dass die Migranten an diesen Leistungen anteilig wie die Einheimischen partizipieren, muss man diesen Wert von den von Bonin zitierten 3300 Euro abziehen. Man kommt dann auf eine jährliche fiskalische Nettobilanz eines Migranten von minus 1800 Euro, oder, wenn man die Verteidigung nicht mitrechnet, weil sie von der Bevölkerungszahl weitgehend unabhängig ist, minus 1450 Euro. Das Vorzeichen dreht sich also um und liegt nicht weit von der Ifo-Zahl entfernt.

Auch Bonin lässt im Übrigen ganz im Gegensatz zu dem Schluss, den einige Medien aus seiner Studie zogen, keinen Zweifel daran, dass die fiskalische Nettobilanz der aktuellen Migranten negativ ist. Für das ganze Leben gerechnet, kommt er pro Migrant netto auf Staatskosten (er nennt sie „implizites Finanzierungsdefizit“) in Höhe von 79.100 Euro. Darin sind alle anteiligen Staatsausgaben enthalten, und alle von den Migranten geleisteten Steuern und Beiträge sind abgezogen.

Eine ideologiefreie Debatte ist nötig

Angesichts dieser Verhältnisse sollte nun endlich eine ideologiefreie und nicht vom Streben nach politischer Korrektheit getriebene Debatte über die Migrationspolitik beginnen. So wie die Migration derzeit läuft, läuft sie falsch, weil die Struktur der Migranten durch die künstlichen Anreize des Sozialstaates verzerrt wird. Grundsätzlich gibt es nur drei Möglichkeiten, die Fehler zu korrigieren: Erstens kann man die Freizügigkeit einschränken, zweitens kann man das Prinzip der Inklusion, des Zugangs der Zuwanderer zu den Leistungen des Sozialstaats, einschränken, und drittens kann man den Sozialstaat abbauen. Da man die dritte Option aus vielerlei Gründen nicht wünschen kann und bei der ersten Option das Recht auf freie Wanderung in der EU verletzt, kommt nur die mittlere in Frage.

Wenn Migranten nur erschwert oder nach längerer Verzögerung Zugang zum steuerfinanzierten Sozialsystem erhalten, ist der Anreiz zu kommen unter den gering Qualifizierten sicherlich geringer. Großbritannien will diesen Weg gehen. Wie Premierminister Cameron angekündigt hat, werden EU-Einwanderer das Land wieder verlassen müssen, wenn sie nicht innerhalb von sechs Monaten eine Stelle finden. Ferner werden ihnen für vier Jahre auch dann keine steuerlichen Freibeträge, keine Arbeitslosenunterstützung, kein Kindergeld und kein Anspruch auf eine Sozialwohnung gewährt, wenn sie einen Arbeitsplatz finden.

Eine Alternative zur britischen Lösung könnte bei Personen, die nicht aus Erwerbsgründen kommen, in der Einführung eines zeitlich begrenzten Heimatlandprinzips für steuerfinanzierte Sozialleistungen bestehen. Wer bedürftiger EU-Bürger ist, hat seine Ansprüche auf soziale Leistungen an sein Heimatland zu richten, denn alle EU-Länder sind Rechts- und Sozialstaaten, die gewisse Mindestnormen erfüllen, aber es steht ihnen frei, diese Leistungen in jedem beliebigen EU-Land zu konsumieren. Dessen ungeachtet stehen steuerpflichtigen und steuerzahlenden Arbeitnehmern aus anderen EU-Ländern alle steuer- und beitragsfinanzierten Sozialsysteme des Gastlandes von Anfang an offen.Diese Regelung würde die Rolle des Wohlfahrtsstaates als Wanderungsmagnet abschwächen und dennoch die Freizügigkeit der EU-Bürger in vollem Umfang gewähren.

Andere Länder als Modell

Für Nicht-EU-Bürger, die Asyl suchen, kann das Heimatlandprinzip natürlich nicht angewandt werden. Für jene, die keinen berechtigten Asylanspruch haben, sondern aus wirtschaftlichen Gründen kommen wollen, bietet sich ein Punktesystem an, wie es viele Länder der Erde, so zum Beispiel die Vereinigten Staaten, Kanada, Australien, Neuseeland und Großbritannien oder auch Österreich, die Niederlande und Dänemark anwenden. Das Punktesystem würde vor allem Kriterien wie Gesundheit, Alter, berufliche Qualifikation, Sprachkompetenz und Vermögen berücksichtigen, um der Gefahr entgegenzuwirken, dass die Migranten Kostgänger des Staates werden und über den Lohndruck, den sie erzeugen, zudem noch die Ungleichheit der Einkommen der ansässigen Bevölkerung vergrößern.

Wenn man die Einwanderer geschickt auswählt, könnte Deutschlands absehbare demographische Krise gerade noch glimpflich bewältigt werden. Aber auch wenn die akute Krise gemeistert wird, werden die den Babyboomern nachfolgenden Generationen vor dem Dauerproblem einer unzureichenden Versorgungslage und einer Überforderung der Assimilationskraft der deutschen Gesellschaft stehen, wenn sie nicht wieder mehr Kinder bekommen. Heute wäre es an der Zeit, durch eine fundamentale und radikale Änderung der verzerrenden Anreizstrukturen im Steuer- und Rentenrecht zugunsten von Familien mit Kindern dagegen anzusteuern.

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