Eine Nachlese zur Anhörung des Verfassungsgerichts

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Project Syndicate, 25. Juni 2013

MÜNCHEN – Das deutsche Verfassungsgericht bereitet gegenwärtig die wohl wichtigste Entscheidung seiner Geschichte vor. Während das Gericht im letzten September grünes Licht für den Rettungsschirm ESM gab, könnte es nun das OMT-Programm der EZB zu stoppen versuchen. Dieses Programm besteht in der Ankündigung, die Staatspapiere der Krisenländer zu kaufen, wenn sie diese Länder notleidend werden und sich den Regeln des ESM unterwerfen.

Natürlich kann das deutsche Verfassungsgericht der EZB keine Befehle geben. Das kann nur der Europäische Gerichtshof in Luxemburg. Doch kann das Gericht sein eigenes Urteil darüber fällen, ob die Aktionen von EU-Organen mit dem Grundgesetz und den EU-Verträgen kompatibel sind, und falls es glaubt, dies sei nicht der Fall, die Handlungen deutscher Institutionen, sogar jene des Bundestags, einschränken. Ex-Verfassungsrichter Udo di Fabio meinte gar, das Gericht könne die Bundesregierung zwingen, aus dem Maastrichter Vertrag auszusteigen, falls es ihr nicht gelänge, das OMT auszuhebeln.

Befürworter des OMT-Programms führen an, dass die Ankündigung, die Papiere eines Staates im Notfall zu kaufen, die Märkte sichtlich beruhigt hat. Es sorge für ein gutes Gleichgewicht mit niedrigen Zinsen, die die Fortsetzung der Verschuldung erlauben. Überall auf der Welt kauften die Zentralbanken große Mengen an Staatspapiere, insbesondere auch in den USA.

Die Kritiker entgegnen, das genau sei das Problem. Da die Eurozone kein Bundesstaat ist, habe die EZB ein sehr viel engeres Mandat als die amerikanische Federal Reserve Bank. Deutschlands Teilnahmebedingung sei das Verbot der Staatsfinanzierung mit der Druckerpresse gewesen, und dieses Verbot sei in Artikel 123 des Unionsvertrages niedergelegt. Außerdem kaufe selbst die Fed keine Papiere von Bundesstaaten, die in Schwierigkeiten sind, wie etwa Kalifornien und Illinois.

Die Befürworter erwidern, dass der genannte Artikel nur direkte Käufe von Staatspapieren verbiete, indirekte Käufe aber erlaube.

Dem wiederum begegnen die Kritiker mit dem Argument, dass mit dem fehlenden Verbot der indirekten Käufe nur gemeint sein könne, dass die EZB in der Lage ist, wöchentliche Wertpapierpensionsgeschäfte zur Stabilisierung des kurzfristigen Zinses zu betreiben, nicht aber größere Bestände zu kaufen, um die langfristigen Zinsen zu senken. Außerdem solle man unter den erlaubten indirekten Käufen wohl eher Refinanzierungskredite an die Banken verstehen, die diese zum Kauf von Staatspapieren verwenden, die sie dann wiederum bei der Notenbank als Pfänder einreichen. Solche Geschäfte seien schon riskant genug für die Staatengemeinschaft, sie die Notwendigkeit der Bankenrekapitalisierung mit Gemeinschaftsgeldern in Südeuropa zeige, aber sie seien erlaubt, weil die Banken zumindest am Risiko beteiligt sind. Die Unterscheidung zwischen Käufen direkt von einem Staat und auf dem Umweg über die Banken sei künstlich und eröffne viele Umgehungsmöglichkeiten.

Eine tiefere Sorge des Gerichts ist vermutlich die Parallelität zwischen der Secondary Market Support Facility (SMSF) des ESM und dem OMT-Programm der EZB. Beide Programme sehen den Kauf von Staatspapiere auf dem Sekundärmarkt vor, werden unter nahezu identischen Bedingungen durchgeführt - nämlich der Unterwerfung des hilfesuchenden Staates unter das ESM-Programm – und sind bislang nur Ankündigungen, ohne dass bereits Geld geflossen ist. Doch während die deutsche Haftung beim SMSF-Programm auf 190 Milliarden Euro begrenzt ist, ist die Haftung beim OMT-Programm unbegrenzt. Der Leser wird sich erinnern, dass das Verfassungsgericht die Bundesregierung im letzten September gebeten hatte, eine völkerrechtlich bindende Erklärung von den anderen Euroländern zu verlangen, nach der eine gesamtschuldnerische Haftung beim ESM ausgeschlossen ist, weil der ESM-Vertrag in diesem Punkte unklar formuliert war. Es ist schwer vorstellbar, dass das Gericht nun die unbegrenzte Ausweitung dieses Programms durch parallele Aktionen der EZB akzeptiert, denn natürlich schlagen die Verluste an Zins- und Tilgungsleistungen bei ausfallenden Staatspapieren im Portfolio der EZB sofort und in voller Höhe auf den Bundeshaushalt durch, genauso wie die Verluste beim Rettungsschirm ESM.

Die Parallelität der Programme impliziert einen ultra-vires-Verdacht für mindestens eine der beiden Institutionen, ESM auf der einen und EZB auf der anderen Seite: Wenn die Staatspapierkäufe geldpolitische Operationen sind, wie die EZB behauptet, dann überschreitet der ESM seine Kompetenzen. Und wenn sie fiskalischen Charakter haben, dann geht die EZB zu weit. Aus logischen Gründen verhält sich also mindestens eine der beiden Institutionen gesetzeswidrig. Da das Verfassungsgericht bereits grünes Licht für den ESM gegeben hat, kann das nun eigentlich nur noch die EZB sein. Aber auf hoher See und vor einem Gericht lässt sich bekanntlich schwer prognostizieren, wie die Sache ausgehen wird.

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