Deutschland gerät wegen seiner Exportüberschüsse immer stärker unter Beschuss. Die EU-Kommission, die amerikanische Regierung und sogar mein geschätzter Kollege Paul Krugman kritisieren, dass Deutschland seine Konjunktur zu wenig ankurbelt und deshalb zu wenig Güter aus dem Ausland importiert. Auf die Kritik reagiert man in Deutschland verschnupft mit dem Argument, die Überschüsse seien das Ergebnis der Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie und deswegen nicht verwerflich. Andere Länder sollten lieber von uns lernen, anstatt ständig herumzunörgeln.
WINKELAKROBATIK
Beide Positionen sind oberflächlich. Sie übersehen, dass die Überschüsse der vergangenen Jahre im Wesentlichen nur das Spiegelbild der Rettungskredite sind, zu denen Deutschland in der Krise gedrängt wurde. Ein Land kann dem Ausland per saldo nur dann Kredit geben, wenn es auch Güter liefert. Es ist finsterste Winkelakrobatik, wenn man Deutschland einerseits vorwirft, es sei bei den Rettungsaktionen zu knausrig, und ihm andererseits seine großen Exportüberschüsse anlastet. Auch die zitierte deutsche Gegenposition zeugt von einem tiefen Unverständnis der Zusammenhänge.
Der Sachverhalt ist doch der: Als der Euro den Anlegern neue Sicherheit bei den Investitionen in Südeuropa vorgaukelte, verließen sie unser Land in Scharen. Deutschland erlahmte, weil es an inländischen Investitionen mangelte. Die boomenden Länder importierten mehr und exportierten weniger, weil sie immer teurer wurden. In Deutschland war es umgekehrt. Die Leistungsbilanzüberschüsse, die sich in Deutschlands Flaute aufbauten, waren das Ergebnis der Kapitalflucht.
Als 2007 08 die Krise kam, wollte das Kapital reumütig zurück nach Deutschland. Doch wurde es großenteils durch die Rettungsaktionen der Europäischen Zentralbank und später der Staatengemeinschaft wieder als öffentliches oder öffentlich besichertes Kapital aus Deutschland in die Krisenländer verfrachtet. Das verzögerte die Reduktion der Leistungsbilanzsalden dieser Länder, verhinderte sie aber nicht, denn die neuen Kredite wurden nicht mehr nur dazu verwendet, Importe zu finanzieren, sondern auch dazu, ausländische Kapitalanleger auszuzahlen und ihnen die Flucht aus toxisch gewordenen Anlagen zu ermöglichen. Die Gläubiger Irlands, Italiens und Spaniens wurden auf diese Weise gerettet. Kein Wunder, dass die City of London wieder boomt und die US-Pensionsfonds ebenso wie die französischen Banken aufatmen. Dank deutscher Hilfe ist man noch mal davongekommen.
Die Gelder, die den Krisenländern als deutscher Kredit zuflossen, kamen für den Kauf deutscher Waren wieder zurück nach Deutschland. Letztlich wurden die Kredite, die Ausländer den Krisenländern gegeben hatten, mit deutschen Waren getilgt, wofür Deutschland entsprechende Forderungstitel öffentlicher Instanzen erhielt. Das zeigt die ganze Absurdität der Kritik an Deutschland. Wir hauen die Krisenländer und ihre Gläubiger mit unseren Waren heraus und werden dann auch noch dafür kritisiert.
Wer glaubt, dies seien theoretische Hirngespinste eines Ökonomen, der die Bodenhaftung verloren hat, der möge sich die Zahlen vor Augen führen. In den fünf ersten Krisenjahren von 2008 bis 2012 betrug der deutsche Leistungsbilanzüberschuss mit dem Rest der Welt 798 Milliarden Euro. Doch allein der Zuwachs an Krediten der Deutschen Bundesbank an andere Länder des Euro-Systems (Target) betrug 585 Milliarden Euro, also drei Viertel dieser Summe. Ferner hat Deutschland in der Periode anteilig für die fiskalischen Rettungskredite der verschiedenen Rettungsfonds (EFSF, ESM, EFSM, IWF) in Höhe von 284 Milliarden Euro gebürgt (was einem deutschen Haftungsrisiko von 60 Milliarden Euro entspricht) sowie für 15 Milliarden Euro selbst Kredite nach Griechenland überwiesen. In der Summe kommt man ohne die Bundesbank auf etwa 75 Milliarden Euro, mit ihr auf 660 Milliarden Euro an deutschen Rettungskrediten.
MEHR INVESTIEREN
Zu normalen Zeiten hätte Deutschland dem Ausland den vollen Leistungsbilanzüberschuss von 798 Milliarden Euro privat kreditiert und entsprechende Vermögenstitel im Ausland erworben. Tatsächlich aber kreditierte es seinen Leistungsbilanzüberschuss in den fünf Krisenjahren zu 83 Prozent durch öffentliche Institutionen - während die privaten deutschen Kapitalanleger und ihre Banken entsprechende Wertpapiere öffentlicher Stellen erwarben, ihre von der Bundesbank bezogenen Kredite tilgten oder der Bundesbank selbst Geld liehen.
Wem die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse als zu hoch vorkommen, der möge den Vorschlag unterbreiten, dass Deutschland die öffentlichen und öffentlich garantierten Kreditflüsse in die Krisenländer zugunsten verstärkter Investitionen in unsere Infrastruktur verringert. Über diesen Weg zur Verringerung der Leistungsbilanzüberschüsse kann man diskutieren. Nicht aber über den Versuch, die Gesetze der Logik zu durchbrechen.
Hans-Werner Sinn ist Präsident des ifo Instituts und Ordinarius an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.