Verteilen statt verkaufen

Bei der Privatisierung der DDR-Wirtschaft sollte die Zuteilung von Vermögenswerten und Startpositionen Vorrang haben.
Autor/en
Hans-Werner Sinn
WirtschaftsWoche, Nr. 5, 25.01.1991, S. 78

Die redlichen Manager der Treuhandanstalt haben es schwer. Während Margaret Thatcher innerhalb eines Jahrzehnts gerade ein paar Dutzend Firmen privatisieren konnte, erwartet man von der Berliner Behörde, daß sie in einem Zug den größten Teil der Volkswirtschaft der ehemaligen DDR verkauft. Etwa 6000 Unternehmenseinheiten, hinter denen sich 40000 Betriebs-Stätten verbergen, sollen an den Mann gebracht werden. Dazu kommen noch 40000 ehemalige HO-Läden und Verkaufsniederlassungen sowie eine unühersehbare Zahl von Immobilien. Schon aus logistischen Gründen wird die Treuhandanstalt nicht in der Lage sein, den geregelten Verkauf der Wirtschaft der ehemaligen DDR innerhalb kurzer Frist zu bewerkstelligen. Weitaus wichtiger als das logistische ist aber das volkswirtschaftliche Kreislaufproblem, das die Privatisierung aufwirft. Es besteht in der Frage, ob überhaupt auf kurze bis mittlere Sicht eine für den Kauf einer ganzen Volkswirtschaft hinreichende Zahlungsbereitschaft mobilisiert werden kann.

Eine Volkswirtschaft zu verkaufen, ist etwas anderes, als eine einzelne Firma zu veräußern. Letzteres ist ein Problem des betriebswirtschaftlichen Rentabilitätsvergleichs unter gegebenen Finanzierungskonditionen des Käufers. Ersteres ist hingegen ein volkswirtschaftliches Kreislaufproblem, das sich an den makroökonomischen Aggregaten orientiert und erhebliche Rückwirkungen auf die Finanzierungskonditionen hat.

Die Reparationenfrage ist ein Beispiel aus der deutschen Geschichte, bei dem sich schon einmal zeigte, daß sich einzelwirtschaftlich mögliche Lösungen nicht unbesehen auf ganze Volkswirtschaften übertragen lassen. Deutschland sollte nach dem Ersten Weltkrieg für die Verluste der Sieger aufkommen. Jetzt sollen private Käufer die Wirtschaft der Ex-DDR bezahlen. Derart immense Geldtransfers in adäquate Gütertransfers umzusetzen, kann selbst die flexibelste Volkswirtschaft überfordern.

Wer das neue deutsche „Transferproblem" abermals mit einzelwirtschaftlichen Rezepten lösen möchte, riskiert, volkswirtschaftliche Denkfehler von der Art des Versailler Vertrages zu wiederholen.

Wer kann die Ex-DDR kaufen? Spontan mag man zunächst an die ehemaligen DDR-Bürger selbst denken. Die Betriebsleiter könnten ihre Firmen, die Mieter ihre Häuser, die HO-Angestellten ihre Läden erwerben. Einige Überlegungen zeigen aber schnell, daß der Kauf der DDR-Wirtschaft durch Ostdeutsche unter den gegenwärtigen Umständen eine Illusion bleiben muß - auch wenn es den Managern der Treuhandanstalt gelungen ist, die Apotheken ohne viel Aufhebens an Ostdeutsche zu verteilen.

Substantielle Kauferfolge scheitern an einem Mangel an Finanzvermögen. Dieser Mangel ist nicht auf die kommunistische Mißwirtschaft, sondern auf ein Konstruktionsmerkmal des kommunistischen Systems und auf die Besonderheiten der Währungsumstellungen zurückzuführen.

Definitionsgemäß gibt es in einer kommunistischen Wirtschaft keine privatwirtschaftlichen Vermögenstitel, die das Gegenstück zum realen Kapitalstock der Wirtschaft darstellen. Die DDR war keine Ausnahme von dieser Regel. Abgesehen von vernachlässigbaren Versicherungsguthaben gab es nur Geld im Sinne der M3-Definition der Bundesbank, nämlich nur Bargeld und Sparguthaben. Die Finanzaktiva, Aktien und andere handelbare Vermögenstitel, die in der Marktwirtschaft den weitaus größten Teil des privaten Vermögens ausmachen, gab es nicht. Es stimmt zwar, daß die DDR im Verhältnis zum Transaktionsvolumen übermäßig mit M3-Geld ausgestattet war. Trotz eines großen Realvermögensüberhanges über die privaten Finanztitel gab es auch einen Geldüberhang.

Dieser Geldüberhang wurde jedoch mit der Währungsunion weitgehend beseitigt. Die Tauschbeträge, die der DDR Bevöikerung zugestanden wurden, sollten eine Ausweitung der D-Mark-Geldmenge um 150 Milliarden bewirken.

Relativ zum privat verfügbaren Einkommen der DDR wäre dann derselbe Liquiditätsgrad wie im Westen Deutschlands herausgekommen. Daß in Wahrheit 180 Milliarden Mark umgetauscht wurden. weil die Bundesbank den Geldcharakter der Forderungen der Außenhandelsbetriebe gegen die Kreditbank der DDR übersah, ändert wenig an der Tatsache, daß die DDR-Bürger mit der Vereinigung praktisch nur die für laufende Transaktionen benötigte Liquidität, darüber hinaus aber keine Finanzaktiva erhalten haben. Mittel zum Kauf der von der Treuhandgesellschaft angebotenen Kapitalien sind deshalb im Osten nicht vorhanden.

Ökonomisch ist die Situation die gleiche, als würde man den Bayern alle Vermögenstitel außer den Geldbeständen wegnehmen und ihnen dann das bayerische Realkapital zum Kauf anbieten. Das Volk der Bayern wäre außerstande, das bayerische „Volksvermögen" zu kaufen. Nur wer mit der Naivität einer Marie Antoinette konkurrieren möchte,  kann diesen Sachverhalt übersehen.

Nicht im Osten, sondern im Westen Deutschlands wohnen potente Käufer. Nur dort sind die Vermögenstitel vorhanden, mit denen der Kauf der Ex-DDRWirtschaft finanziert werden kann. Grundsätzliche Probleme mit dem Kauf gibt es aber auch hier.

Es stimmt zwar: Wenn westdeutsche Firmen oder Haushalte der Treuhandanstalt Bestände an Finanzaktiva im Austausch für ostdeutsche Realvermögensbestände übergeben, dann ist der Verkauf der Ostwirtschaft makroökonomisch möglich. Dies wäre der Fall, wenn die Treuhandanstalt ihre Verkaufserlöse für den Erwerb westdeutscher Aktien, Obligationen und Staatspapiere verwenden würde oder auch um Kredite an Westdeutsche zu vergeben. Westdeutsche Kaufinteressenten hätten dann keine Schwierigkeiten, sich die für den Kauf von Ostobjekten nötige Liquidität zu verschaffen.

Ein solches Veihalten der Treuhandanstalt ist aber nicht zu erwarten. Auf absehbare Zeit werden die Verkaufserlöse zur Stützung unrentabler Betriebe verwendet und fließen über die Lohnzahlungen dieser Betriebe letztlich in den Konsum. Sollte wirklich ein Überschuß verbleiben, so wird er im Einklang mit dem Einigungsvertrag an die ostdeutschen Gebietskörperschaften fließen, die ihn für Löhne und  Infrastrukturinvestitionen verwenden werden. In keinem Fall ist jedoch damit zu rechnen, daß die Verkaufserlöse der Treuhandanstalt direkt oder indirekt für einen Kauf von Vermögenstiteln im Westen oder eine Kreditvergabe an den Westen verwendet werden. Ein Verkauf des ostdeutschen Bestandes an Vermögensobjekten im Austausch gegen westliche Aktiva findet deshalb nicht statt. Damit verbleibt allein die Möglichkeit, die östlichen Vermögensbestände gegen den laufenden Strom westlicher Ersparnisse zu verkaufen, sie also mit den nichtkonsumierten Einkommensteilen - Haushaltsersparnis und einbehaltene Gewinne - zu bezahlen. Wenn die Käufer Ersparnisse zum Erwerb von Ostobjekten verwenden, treten sie Ansprüche auf die laufende Güterproduktion an die Nutznießer der Treuhand-Erlöse ab. Nicht gegen Finanztitel, sondern gegen Güter aus der laufenden Produktion verkauft die Treuhandanstalt die Wirtschaft der ehemaligen DDR.

Dies ist das volkswirtschaftliche Fundamentalprohlem der Privatisierung der DDR-Wirtschaft. Der Kapitalbestand der Treuhandanstalt muß mif dem Strom westlicher Ersparnisse und dem zugehörigen Strom an Gütern gekauft werden.

Das ist auf kurze Sicht weder theoretisch noch praktisch möglich. Eine Talsperre kann man auch nicht über Nacht füllen. Man muß lange warten, bis aus dem Strom ein Bestand akkumuliert worden ist.

Dies gilt vor allem. wenn der Strom nur ein Rinnsal ist: Große Teile der westlichen Ersparnisse sind nämlich fest für andere Aufgaben verplant. Die westdeutschen Ersparnisse werden zur Finanzierung des Staatsdefizits, der privaten Investitionen und des Außenhandelsüberschusses verbraucht. Die ersten beiden Komponenten werden wegen der Vereinigung sicherlich nicht schrumpfen. Das Gegenteil ist der Fall.

Das Staatsdefizit ist mit der Vereinigung gestiegen, nicht gefallen. Im Mittel der Jahre 1990 und 1991 wird mit einer Zunahme des Defizits von je 60 Milliarden Mark gegenüber 1989 gerechnet. Auch die privaten Investitionen haben stark angezogen. Vor allem wegen des hohen Finanzbedarfs für den Aufbau des Kapitalstocks in der Ex-DDR ist nicht damit zu rechnen, daß von dieser Seite Sparbeträge für den Kauf des existierenden ostdeutschen Kapitalbestandes freigemacht werden können.

Nur die in Form des Leistungsbilanzüberschusses ins Ausland fließenden Ersparnisse geben Hoffnung auf Flexibiität. Im Prinzip kann der deutsche Strom des Nettokapitalexportes schrumpfen und sich sogar in einen Kapitalimport verwandeln. Die hohe Mobilität des internationalen Finanzkapitals erleichtert den Kapitalimport sicherlich. Sie ist aber nicht hinreichend. Zusätzlich müssen die internationalen Güterströme nach Deutschland umgelenkt werden, so daß aus dem deutschen Leistungsbilanzüberschuß ein Defizit wird. Erst dann stehen ausländische Ersparnisse zum Kauf der DDR-Wirtschaft zur Verfügung.

Die Entstehung eines Leistungsbilanzdefizits ist die normale Konsequenz der D-Mark-Aufwertung (oder Preisinflation), die das gestiegene internationale Interesse an Investitionen im D-Mark-Raum auslösen wird. Allerdings zeigt die Erfahrung, daß eine solche Reaktion Jahre braucht. Kurzfristig, im Verlauf weniger Monate, ist nicht mit wechselkursbedingten Mengenreaktionen zu rechnen. Eher vergrößert sich der Leistungsbilanzüberschuß vorübergehend, weil die Importe relativ billiger werden.

Die einzige Mengenreaktion, die sofort stattfindet, ist die Zunahme der Importe aufgrund der gestiegenen Güternachfrage im Osten. Die dadurch verursachte Abnahme des Leistungsbilanzüberschusses ist ein Sekundäreffekt, der das Finanzierungsproblem mildert.  Aber auch er beseitigt das Problem nicht. Im Jahr 1989 war die Abnahme des Leistungsbilanzüberschusses nicht einmal groß genug, um die Zunahme des Staatsdefizits zu kompensieren.

Das Problem der unzureichenden Leistungsbilanzreaktion wird verschärft, wenn die Bundesbank durch Ankauf von Devisen den Außenwert der D-Mark stabilisiert. Die wechselkursbedingte Leistungsbilanzreaktion entfällt, und trotz eines Kapitalimportes stehen keine zusätzlichen Sparbeträge für den Kauf von Treuhand-Objekten zur Verfügung. Die Wechselkursstabilisierung bedeutet, daß die Bundesbank Geld oder verzinsliche Wertpapiere gegen zufließende Ersparnisse tauscht. Der Güterstrom aber, der für den Kauf des Bestandes an Treuhand-Objekten eingesetzt werden kann, schwillt dadurch nicht an. Er bleibt tatsächlich ein Rinnsal.

Aus alledem folgt, daß es nicht sinnvoll sein kann, die ostdeutsche Wirtschaft unter den gegebenen Bedingungen auf einen Schlag veräußern zu wollen. Wenn die Treuhandanstalt ihre Objekte schnell verkaufen will, dann müssen die Finanzierungskonditionen des Marktes noch schlechter werden, als sie es wegen des hohen staatlichen Kreditbedarfs ohnehin schon sind. Die Ertragswerte der Treuhandobjekte liegen dann bei Null oder gar darunter, und wenn überhaupt, so sind nur Schleuderpreise erzielbar. Statt der vom Treuhandpräsidenten Rohweder ursprünglich erwarteten Verkaufslöse von 600 Milliarden Mark werden möglicherweise nur einige Dutzend Milliarden zusammenkommen. Ganz fundamentale volkswirtschaftliche Zusammenhänge widersprechen der betriebswirtschaftlichen Logik der Treuhand-Politik.

Die Schlußfolgerung aus diesen Schwierigkeiten kann allerdings nicht lauten, daß die Privatisierung verzögert werden sollte. Dies würde nämlich dem Ziel einer baldigen Rekonvaleszenz und Erneuerung der Wirtschaft Ostdeutschlands entgegenstehen. Sie kann nur lauten, daß bei der Privatisierung der Gedanke der Zuteilung von Vermögenswerten und Startpositionen an rivalisierende Interessenten Vorrang vor dem unerreichbaren Ziel der Einnahmeerzielung haben sollte. Eine Möglichkeit, diesen Gedanken zu realisieren, besteht darin, die zu privatisierenden Ost-Firmen kompetenten westlichen Partnern nicht gegen Zahlung eines Kaufpreises, sondern unter Verbleib einer Beteiligung bei der Treuhandanstalt zu übergeben. Der Interessent selbst würde eine Beteiligung für das gelieferte Kapital und Know-how erhalten, die sich durch zukünftige Kapitalerhöhungen noch vergrößern ließe. Die Höhe der Restbeteiligung der Treuhandanstalt wäre Verhandlungssache ähnlich wie die Preisverhandlung beim jetzigen Verfahren. Beteiligungen, bei denen die Treuhandanstalt auf Dauer die Stimmenmehrheit behielte, sollten allerdings vermieden werden, um das Sanierungsinteresse des westlichen Partners nicht zu verwässern.

Am besten wäre es, die Beteiligungen der Treuhandanstalt von vornherein so auszugestalten, daß die Behörde keinen Einfluß auf die Geschäftspolitik ausüben kann und daß eine Nachschußpflicht für Verluste ausgeschlossen wird. In einem zweiten Schritt würden die von der Treuhandanstalt zurückbehaltenen Anteile der Bevölkerung Ostdeutschlands übertragen. Zweckmäßig wäre die Bildung von Fonds, die wohldiversifizierte Portfolios von Unternehmensanteilen halten. Der ostdeutschen Bevölkerung könnten dann Anteile an den Fonds übertragen werden. Wie es in der Präambel des von der DDR übernommenen Treuhandgesetzes von Juni 1990 und in Artikel 25 des Einigungsvertrages erwähnt wird, könnten die Fondsanteile in Proportion zu den 2 zu 1 umgestellten Sparbeträgen vergeben werden.

Für Kleinbetriebe und Verkehrsniederlassungen bietet sich eine Vergabe an ostdeutsche Interessenten gegen Eintrag einer festverzinslichen Schuld gegenüber der Treuhandanstalt an. Die entsprechende Forderung der Treuhandanstalt entspricht der Beteiligung an größeren Betrieben, und auch sie sollte auf dem Wege über die Fonds an die Bevölkerung übertragen werden. Die Schuld der Kleinbetriebe sollte mäßig bemessen und später tilgbar sein.

Das so skizzierte Privatisierungsprogramm vermeidet die beschriebenen Finanzierungsprobleme. Das existierende "Volksvermögen" wird nciht verkauft, sondern dem "Volk" übereignet. Finanziert weden müssen von den neuen Firmeninhabern nicht die vorhandenen Bestände, sondern nur die Zuwächse dieser Bestände in der Form zukünftiger Nettoinvestititionen. Da diese Zuwächse selbst Ströme sind, bestehen keine prinzipiellen Probleme, sie aus dem Strom der Ersparnisse zu finanzieren.

Diese "Privatisierung" würde den Vorwurf der Verschleuderung von Volksvermögen, der das jetzt praktizierte Verfahren nicht ganz zu Unrecht trifft, vermeiden. Sie hätte außerdem den Vorzug der größeren Effizienz. Bei jeder Milliarde, die die Treuhandanstalt beim jetzigen Verfahren aus dem westdeutschen Sparvolumen abzweigen kann, besteht nämlich die Gefahr, daß sie für Subventionen an sterbende Industrien sinnlos vergeudet wrid. Bei der hier beschriebenen Verfahren stünde dieselbe Milliarde für Kapitalerhöhungen und damit für echte Nettoinvestitionen in den rentablen Betrieben, die Partner finden konnten, zur Verfügung. Die ostdeutsche Wirtschaft könnte schneller wachsen, und die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West ließe sich früher verwirklichen.