Münchner Merkur, 10. Dezember 2018 S. 3.
Einen Tag vor der historischen Abstimmung über den Brexitvertrag im Unterhaus zwischen der EU und der Regierung von Theresa May ist die Zukunft ungewiss. Fällt der Vertrag im Parlament durch? Hat der Exit vom Brexit noch eine Chance? Wie würde sich der Brexit auf die Rest-EU und Deutschland auswirken? Darüber sprachen wir mit dem früheren Präsi-denten des ifo-Instituts, Prof. Hans-Werner Sinn.
Vorausgesetzt, es passiert nicht noch ein Wunder, wird mit Großbritannien Ende März 2019 die zweitgrößte Volkswirtschaft die EU verlassen. Welche Dimension hat der Brexit für die verbleibende 27er-Union?
Das Vereinigte Königreich ist so groß wie die 19 kleinsten EU-Länder zusammen. Sein Austritt ist also wirtschaftlich gleichbedeutend mit dem Austritt von 19 der 28 EU-Länder. Die Vorstellung, man könne zur Tagesordnung übergehen, weil der Brexit ein Nichtereignis sei, ist absurd. Die Nachkriegsordnung wird erschüttert.
Sie haben einmal gesagt, nach dem Brexit dürfe in der EU kein Stein auf dem anderen bleiben. Welche Konsequenzen muss die EU ziehen?
Die erste Konsequenz aus deutscher Sicht ist, dass die Sperrminoritätsklausel im EU-Ministerrat, die im Vertrag von Lissabon verankert ist, geändert werden muss. Diese Klausel besagt, dass Beschlüsse von einer Ländergruppe, die 35 Prozent der Bevölkerungsgruppe auf sich vereint, blockiert werden können. Bisher war es so, dass die – ich nenne sie mal – Nordländer, also Großbritannien, Holland, Deutschland, Österreich und die Länder bis ganz hoch in den Norden, 39 Prozent der Bevölkerung auf sich vereinigten, während die mediterranen Länder auf 38 Prozent kamen. Beide Gruppen hatten also eine Sperrminorität, es war ein Gleichgewicht der Kräfte. Man konnte nichts durchsetzen, was einer der Gruppen missfiel.
Diese „innere Balance“ ginge also verloren?
So ist es. Ohne die Briten rutscht die Nordgruppe 30 Prozent ab und verliert die Sperrminorität, während die mediterrane Gruppe auf 43 Prozent hochgeht. Das muss dringend geändert werden. Deutschland kann es nicht hinnehmen, dass die Sperrminoritätsklausel so bleibt, wie sie ist.
Was ist mit dem Thema Migration?
Ein Grund für die Brexit-Entscheidung der Briten war das Thema innereuropäische Migration. Man muss überlegen, ob die Gründe der Briten für ihre Austrittsentscheidung nicht doch legitim sind, weil sie ein Problem der EU aufzeigen. Die britische Regierung hatte bei den Verhandlungen ja gewollt, dass eine verzögerte Integration von EU-Immigranten in das britische Sozialsystem ermöglicht wird. London argumentierte, Großbritannien sei ein Sozialmagnet.
Ist das Argument korrekt?
Ja. Migranten kommen, weil es ihnen im Zielland besser geht als im Heimatland. Und zwar aus zwei Gründen. Erstens verdienen sie einen höheren Lohn. Und zweitens erhalten sie bessere Sozialleistungen sowie weitere staatliche Leistungen in Form eines besseren Rechtssystems, eines besseren öffentlichen Schutzes oder einer besseren Infrastruktur. Der erste Anreiz ist sinnvoll, weil die dadurch induzierte Migration die Wirtschaftskraft Europas erhöht, der zweite Anreiz ist falsch, denn er resultiert aus einem Geschenk, das der Club, in den man eintritt, den Neumitgliedern macht, ohne dass sie dafür bezahlen müssen. Das Geschenk verfälscht die Migrationsentscheidung und ist für die vorhandene Bevölkerung nachteilig, weil die öffentliche Infrastruktur überlastet wird und die Sozialsysteme mehr Geld ausgeben müssen.
Wie kann man das anders regeln?
Wir müssen die Magnetwirkung der Sozialstaaten reduzieren. Dazu würde ich die Sozialleistungen aufteilen: in erarbeitete und ererbte Leistungen.
Was ist darunter zu verstehen?
Die erarbeiteten Leistungen sollten vom Gastland gezahlt werden, die ererbten vom Heimatland. Unter den erarbeiteten Leistungen verstehe ich Leistungen der Renten-, Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung, die man selbst bezahlt. Unter den ererbten Leistungen verstehe ich die steuerfinanzierten Leistungen wie z.B. eine Sozialhilfe für gering Qualifizierte, die keine Arbeit finden, für chronisch Kranke, für behinderte Personen oder auch für Kinder, die im Ausland verbleiben. Leistungen, die nicht mit dem Arbeitsverhältnis zusammenhängen, sollten vom EU-Heimatstaat erbracht werden, weil der Heimatstaat das Versicherungskollektiv ist, dem man entstammt. Eine Sanierung der heimischen Versicherungskollektive zu Lasten der derzeit noch funktionsfähigen Sozialstaaten der EU sollte man ausschließen. Eine solche Regelung würde im Übrigen die allerletzte Chance bieten, um den Brexit noch abzuwenden. Sollte das Unterhaus morgen den Rückfall-Vertrag ablehnen, den Premierministerin May ausgehandelt hat, was ich nicht für unwahrscheinlich halte, ist das Rennen ja noch einmal offen. Dann könnte man den Briten ein Angebot machen, das sie nicht ablehnen können.
Großbritannien ist Deutschlands viertgrößter Exportmarkt. Wie hart trift uns der Brexit wirtschaftlich?
Er trifft uns extrem. Industriegüter werden ja heute in einer verflochtenen Wirtschafts-struktur hergestellt. Ein Gut kreuzt als Vorprodukt die Grenzen mehrfach, bevor es beim Verbraucher landet. In-sofern würde eine Zollgrenze zwischen Großbritannien und Deutschland eine Kaskadenwirkung bei den Zöllen entfalten, weil die arbeitsteilig erzeugten Güter mehrfach belastet werden. Das würde Handelsketten zerschneiden und zerstören. Es würde sich eine neue Struktur der Wirtschaft ergeben – mit erheblichen Übergangsproblemen. Auch langfristig hätten alle Beteiligten erhebliche Nachteile, weil die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung verloren gehen.
Was kann die Bundesregierung tun, um Schadensbegrenzung zu betreiben?
Die Regierung in Berlin hätte das Brexit-Thema von vorneherein ernster nehmen und für den Verbleib der Briten in der EU kämpfen müssen. Ich habe davon bislang nichts ge-sehen. Im Wesentlichen herrschte Lethargie. Das muss sich ändern. Die Bundeskanzlerin sollte in einem letzten großen Schritt – und damit könnte sie in die Geschichtsbücher eingehen – den Briten jenen Vorschlag machen, von dem ich zuvor sprach, und den anderen EU-Ländern nahelegen, ihn anzunehmen. Ich glaube nämlich, der Kladderadatsch bei einem ungeordneten Brexit schreckt doch viele ab. Dann wäre die Möglichkeit gegeben, das britische Volk in einem zweiten Referendum zu überzeugen, doch dabeizubleiben. Inzwischen ist eine Mehrheit der Briten ohnehin schon für den Verbleib in der EU.
Das Interview führte Alexander Weber.