Selten hat ein wirtschaftspolitischer Gastbeitrag solch eine Flut an kritischen Leserbriefen ausgelöst wie Hans-Werner Sinns vehementes Plädoyer gegen eine Einführung des Mindestlohns. Eine Antwort.
"Die Lektüre Ihrer Briefe macht mir klar, dass wir ähnliche Wertvorstellungen bezüglich der Ziele der Wirtschaftspolitik haben. Wir alle wollen, dass jeder, der arbeiten will, arbeiten kann und dann genug zum Leben hat. Es geht also um Existenzsicherung und Vollbeschäftigung. Wir unterscheiden uns allein bei der Einschätzung der Instrumente zur Erreichung dieser Ziele.
Zur Disposition stehen alternativ der Mindestlohn und Zuzahlungen zu Niedriglöhnen: Welches Instrument die beiden Ziele erreichen kann, ist keine Frage eines politischen Werturteils, sondern eine ökonomische Sachfrage, die man objektiv beurteilen kann. Bitte geben Sie mir als Ökonom die Gelegenheit, die beiden Instrumente im Hinblick auf ihre Eignung zur Erreichung der Ziele Vollbeschäftigung und Existenzsicherung zu diskutieren, ohne dass ich mich bereits auf der Ebene der Instrumente eines Werturteils bediene.
Erlauben Sie mir zunächst einen Blick auf die Funktionsweise des Arbeitsmarktes in einer Marktwirtschaft. Ich habe nämlich den Eindruck, dass sich hierdurch bereits viele Ihrer Fragen klären lassen.
Unternehmen schaffen Stellen, indem sie Ideen in Projekte umsetzen. Da sie Gewinne machen wollen, realisieren sie aber nur einen kleinen Teil der Projektideen, die technisch machbar sind. Wie viele Projektideen sich rechnen, hängt unter anderem von den Kosten ab, und die wichtigsten Kosten sind die Löhne.
Untaugliches Instrument
Je niedriger der Lohn für die Arbeit in einem speziellen Qualifikationssegment des Arbeitsmarktes ist, desto mehr Stellen gibt es in diesem Segment, weil sich mehr Projekte lohnen und weil mehr Arbeit eingeplant wird. Dies ist eines der Fundamentalgesetze der Volkswirtschaftslehre.
In einer sich selbst überlassenen Marktwirtschaft bestimmt sich der Lohn für die verschiedenen Qualifikationssegmente durch Angebot und Nachfrage. Die Unternehmen konkurrieren um Arbeitskräfte und treiben den Lohn in jedem Segment bis zu dem Punkt, wo sich gerade so viele Projektideen rechnen, dass alle Menschen, die arbeiten wollen, auch tatsächlich beschäftigt werden.
Wird ein einheitlicher Mindestlohn eingeführt, der zumindest in einigen Segmenten des Arbeitsmarktes über dem Marktlohn liegt, so verringert sich die Menge der Stellen, die rentabel bewirtschaftet werden kann.
Ein Teil der Menschen, die man schützen will, wird deshalb in die Arbeitslosigkeit getrieben. Dies zeigt, dass der Mindestlohn ein untaugliches Instrument zur Erreichung der beiden oben genannten Ziele ist. Von einem Mindestlohn, den man nicht bekommt, kann man nicht leben.
Wenn man will, dass sich eine hinreichend große Zahl von Projekten rechnet und jeder einen Arbeitsplatz findet, braucht man eine flexible Lohnstruktur, die durch die Marktkräfte bestimmt wird. Für die weitaus überwiegende Zahl der Arbeitnehmer reichen die dabei entstehenden Löhne zum Leben, aber nicht für alle. Das ist das Dilemma.
Dieses Dilemma kann man nur durch Zuzahlungen auflösen. Zuzahlungen erhöhen das Einkommen über den Lohn hinaus, ohne dass sie die Arbeit künstlich verteuern und Arbeitsplätze vernichten. Wie ich noch erläutern werde, muss man in der Situation der Vollbeschäftigung auch nicht befürchten, dass die Unternehmen die Zuzahlungen ausnutzen können, indem sie niedrigere Löhne zahlen. Die Zuzahlungen kommen in einer solchen Situation voll und ganz den Arbeitnehmern zugute.
Von Brandt bis Schröder
Deutschland muss nicht darüber rätseln, wie Mindestlöhne wirken, denn es hat sie schon. Der deutsche Sozialstaat ist auf der Idee des Lohnersatzes gegründet. Ob man an die Frührente oder das Arbeitslosengeld denkt: Immer fließt das staatliche Geld, wenn man nicht arbeitet, und versiegt in dem Maße, wie man es tut. Dadurch wird bereits eine Art Mindestlohn begründet, denn niemand arbeitet für weniger Geld, als der Staat unter der Bedingung, dass man nicht arbeitet, zur Verfügung stellt.
Unter Willy Brandt, Helmut Schmidt sowie später auch unter der Regierung Kohl und ihrem Arbeitsminister Blüm wurde ein Sozialgesetz nach dem anderen beschlossen, das immer mehr staatliches Geld unter der Bedingung der Nichtarbeit zur Verfügung stellte und damit immer höhere Mindestlohnansprüche begründete.
So haben sich zum Beispiel die Sozialhilfeleistungen pro Kopf (inklusive der Nebenleistungen) von 1970 bis 2005 fast auf das Vierfache erhöht, während der durchschnittliche Nettolohn je Arbeitnehmer nur auf etwas mehr als das Dreifache anstieg. Die Verbesserungen beim Arbeitslosengeld, vor allem die Einführung der Arbeitslosenhilfe und der Frührente haben die impliziten Mindestlohnansprüche des deutschen Sozialsystems ebenfalls erhöht.
Die Konsequenz war immer mehr Arbeitslosigkeit. In den 35 Jahren von 1970 bis 2005 stieg die westdeutsche Arbeitslosigkeit von 150.000 auf 3,45 Millionen beziehungsweise von 0,6 auf 9,6 Prozent der Erwerbspersonen, und Deutschland besetzte in der OECD-Statistik der arbeitslosen Geringqualifizierten mit großem Abstand die Spitzenposition.
Auch die enorme Zunahme der Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern wird durch Mindestlöhne erklärt. Einerseits hatten dort die westdeutschen Arbeitgeber im Jahr 1991, vor der Privatisierung der kommunistischen Wirtschaft, hohe tarifliche Mindestlöhne durchsetzen können, um ihre westdeutschen Industrien vor der potentiellen Konkurrenz der Japaner und all der anderen zu schützen, deren Eintritt in die Treuhandfirmen man befürchtete.
Verheerende Entwicklungstendenzen
Die westdeutschen Arbeitgeber spielten damals im Großen das gleiche Spiel wie Klaus Zumwinkel bei der Post im Kleinen. Andererseits hat das westdeutsche Lohnersatzsystem, das den neuen Bundesländern übergestülpt wurde, extrem hohe implizite Mindestlöhne gesetzt, die weit über der Produktivität der neuen Länder lagen.
Kein Wunder, dass die neuen Länder seit 1995 langsamer als die alten Länder gewachsen sind und sich ihr wirtschaftlicher Rückstand ständig vergrößert hat, was derzeit pro Jahr bald 100 Milliarden Euro an öffentlichen Nettotransfers von West- nach Ostdeutschland verlangt.
Gerhard Schröder und Wolfgang Clement haben diesen für unser Land verheerenden Entwicklungstendenzen ein Ende gesetzt. Mit der Agenda 2010 wurden die impliziten Mindestlöhne des deutschen Sozialsystems gesenkt, weil der Staat im Rahmen des ALG-II-Systems weniger fürs Wegbleiben und mehr fürs Mitmachen zahlt. (Der implizite Mindestlohn ist die Differenz zwischen dem Lohnersatz und dem Lohnzuschuss, entspricht also dem staatlichen Geld, das man per saldo verliert, wenn man eine Arbeit aufnimmt.)
"Mindestlöhne unterminieren die Gesellschaft"
Das Arbeitslosengeld wird nicht mehr so lange gezahlt, die Arbeitslosenhilfe wurde abgeschafft, und vor allem wurde im Rahmen von Hartz IV ein Lohnzuschusssystem eingerichtet, von dem derzeit 1,325 Millionen Erwerbstätige als sogenannte Aufstocker profitieren.
Mit den Lohnzuschüssen wird das Problem der Working Poor, der arbeitenden Armen, wirksam verhindert. Sie machen es möglich, dass Stellen, die nur mit geringer Produktivität und bei niedrigen Löhnen verfügbar sind, tatsächlich bereitgestellt werden und dass gleichzeitig ein Mindesteinkommen gesichert bleibt.
Die Agenda 2010 hat ein Wunder auf dem Arbeitsmarkt bewirkt, denn der derzeitige Wirtschaftsaufschwung Deutschlands ist der erste seit einem Dritteljahrhundert, bei dem die Sockelarbeitslosigkeit Westdeutschlands nicht höher als im vorangehenden Aufschwung war.
Mindesteinkommen statt Mindestlohn
Bislang war die westdeutsche Sockelarbeitslosigkeit von Aufschwung zu Aufschwung um etwa 800.000 Personen gestiegen; ja, wenn die Prognosen stimmen, wird die Arbeitslosigkeit in diesem Jahr nochmals um 200.000 Personen fallen. In dieser Größenordnung - eine Million - liegt also der Gewinn an Arbeitsplätzen allein in Westdeutschland, der auf die Senkung der deutschen Mindestlöhne zurückzuführen ist.
Die Politik sollte sich bemühen, Deutschlands neue Beschäftigungsdynamik über den drohenden konjunkturellen Abschwung hinaus zu erhalten und unser Land auf den Pfad von Wohlstand und Beschäftigung zurückzuführen. Das kann durch eine konsequente Fortentwicklung der Agenda 2010 geschehen, wie sie vom Ifo-Institut unter dem Namen Aktivierende Sozialhilfe schon vor längerer Zeit vorgeschlagen und berechnet wurde.
Im Wesentlichen geht es darum, dauerhaft höhere Zuzahlungen zum Lohn zu leisten, indem die Hinzuverdienstgrenze des ALG II von 100 auf 500 Euro erhöht und der Entzug der staatlichen Unterstützung bei Einkommen jenseits von 500 Euro verringert wird. "Mindesteinkommen statt Mindestlohn" ist die Devise dieses Programms.
Durch die weitere Erhöhung der Zuzahlungen würde keineswegs ein Heer von Tagelöhnern entstehen, wie ein Leser meint. Diese Befürchtung ist grundlos, denn auf allen neuen Stellen können vollwertige Arbeitsverhältnisse mit dem gleichen Kündigungsschutz wie im Rest der Wirtschaft geschaffen werden.
Die laufenden Zuzahlungen zum Lohneinkommen würden sicherstellen, dass jeder Arbeitnehmer von seinem Gesamteinkommen leben kann. Nicht zuletzt der Sachverständigenrat der Bundesregierung und der wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft haben sich aus diesen Gründen vehement für die Zuzahlungen ausgesprochen.
Neue Arbeitslosigkeit
Wenn man stattdessen auf neue Mindestlöhne setzt, wird es neue Arbeitslosigkeit geben. Da auch nach Schröder immer noch erhebliche Mindestlöhne im deutschen Sozialsystem angelegt sind, könnte man zwar vermuten, dass ein gesetzlicher Mindestlohn keinen zusätzlichen Schaden anrichten würde, doch greifen die impliziten Mindestlöhne des Sozialsystems nicht lückenlos.
Rentner, mitarbeitende Ehepartner, Schüler und Studenten verlieren keine Ansprüche, wenn sie arbeiten. Deswegen würde ein gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von 7,50 Euro eine erhebliche Bindungswirkung entfalten.
Wie viele Stellen per saldo mindestens verlorengehen, kann man recht verlässlich abschätzen, weil die deutsche Lohnverteilung aus der Zeit vor der Agenda 2010 bekannt ist. Im Jahr 2001 bezogen 4,2 Millionen Menschen Löhne unterhalb von 7,50 Euro. Empirisch zeigt sich, dass bei einer Lohnerhöhung um ein Prozent mindestens etwa 0,75 Prozent der vorhandenen Stellen vernichtet werden.
Die Dresdener Ökonomen Marcel Thum und Joachim Ragnitz haben daraufhin errechnet, dass etwa 1,1 Millionen Menschen in Deutschland zusätzlich arbeitslos werden, davon 800.000 im Westen und 300.000 im Osten. Die Schätzungen sind Mindestwerte, weil sie die vielen Niedriglohnjobs, die durch die Agenda 2010 geschaffen wurden, noch nicht berücksichtigen. Ein gewisser Teil dieser Jobs ginge natürlich zusätzlich verloren.
Hilft nicht die Stärkung der Kaufkraft, die mit Mindestlöhnen einhergeht, die Nachfrage zu erhöhen und auf diese Weise die Jobverluste zu vermeiden, fragt ein Leser. Die Antwort ist leider nein, denn eine Lohnerhöhung kann die Kaufkraft einer Volkswirtschaft immer nur anders verteilen, aber nie erhöhen.
Ausbeutung und Konkurrenz
Die Arbeiter, die beschäftigt bleiben, haben mehr Einkommen, doch die Unternehmer und auch die von Preiserhöhungen betroffenen Kunden haben weniger und werden weniger kaufen. Insbesondere fällt die Investitionsgüternachfrage der Unternehmen, weil immer mehr potentielle Investitionsprojekte unter die Rentabilitätsschwelle rutschen. Dies dürfte der wichtigste Nachfrageeffekt auf die Konjunktur sein.
Einige Leser verweisen auf ausbeuterische Löhne. In der Tat können solche Löhne durch die Markmacht von Firmen entstehen, die als Nachfragemonopolist auf ihrem jeweiligen lokalen Arbeitsmarkt auftreten. Der Fall kann vorliegen, wenn die Arbeitnehmer wegen ihrer Ausbildung eng spezialisiert sind und auf ihrem lokalen Arbeitsmarkt nur für einen einzigen Arbeitgeber in Frage kommen."
"Mindestlöhne unterminieren die Gesellschaft"
Ein Mindestlohn könnte dann tatsächlich ohne Schaden für die Beschäftigung eingeführt werden. Aber wie realistisch ist der Fall des Nachfragemonopols im Niedriglohnsektor? Gerade die ungelernten Arbeitskräfte, die diesen Sektor dominieren, sind doch nicht an bestimmte Arbeitgeber gebunden, sondern können auch in kleineren Ortschaften unter mehreren Arbeitgebern wählen, und seien es nur Privatleute, bei denen haushaltsnahe Dienstleistungen erbracht werden können.
Das Nachfragemonopol auf dem Arbeitsmarkt ist ein theoretischer Fall, dem gerade im Niedriglohnsegment keine Bedeutung zukommt. Die Befürchtung massiver Jobverluste wird nicht entkräftet.
Andere Länder, schlechte Erfahrungen
Aber machen uns nicht andere Länder vor, dass man mit Mindestlöhnen gut zurechtkommt, fragen einige Leser. Die Frage ist berechtigt, denn tatsächlich haben die meisten europäischen Länder und die USA Mindestlöhne. Die Antwort darauf ist: Es kommt immer auf die Höhe der Mindestlöhne an.
Niedrige Mindestlöhne schaden nicht, hohe wie die 7,50 Euro, die für Deutschland diskutiert werden, wohl. Die amerikanischen Mindestlöhne liegen bei etwa vier Euro, und die britischen ungefähr beim dem für Deutschland diskutierten Wert von 7,50 Euro. Beide Länder haben aber ein viel höheres Sozialprodukt pro Kopf als Deutschland, und beide belasten die Arbeitgeber von Geringverdienern mit viel geringeren Sozialabgaben.
Vergleicht man die Lohnkosten pro Stunde und korrigiert man die Rechnung bezüglich der unterschiedlichen Werte des Sozialprodukts pro Kopf, so liegt der amerikanische Mindestlohn bei weniger als drei Euro pro Stunde (2,94 Euro) und der englische bei etwa sechs Euro (6,16 Euro). In der Tat beziehen auch nur 1,1% der amerikanischen und 1,9% der britischen Arbeitnehmer den Mindestlohn.
Ganz anders ist es in Frankreich. Der französische Mindestlohn liegt bei 8,44 Euro, was wegen der ähnlichen wirtschaftlichen Verhältnisse auch nach einer Umrechnung auf deutsche Verhältnisse fast denselben Geldbetrag ergibt (8,27 Euro).
Kein Wunder, dass in Frankreich 15,1% der Arbeitnehmer den Mindestlohn erhalten und das Land unter einer Massenarbeitslosigkeit leidet, die sich ab und an in Krawallen entlädt. Genau deshalb haben der europäische Zentralbankchef Claude Trichet und die französische Wirtschaftsministerin Christine Lagarde Deutschland gewarnt, dem französischen Beispiel zu folgen.
Grenzen des Mitnahmeeffektes
Letzten Aufschluss über die internationalen Erfahrungen können nur empirische Untersuchungen bieten, von denen es bereits eine sehr große Zahl gibt. Ein wissenschaftlicher Überblicksartikel von David Neumark und William Wascher sichtet 150 ökonometrische Studien zur Rolle der Mindestlöhne in den USA und vielen anderen Ländern.
Er kommt zu dem Schluss, dass die weitaus meisten Studien (und nahezu alle, die nach der Einschätzung der Autoren die normalen Standards wissenschaftlicher Arbeit erfüllen) negative Beschäftigungswirkungen finden.
Klaus Zumwinkel hat den Deutschen das wohl am häufigsten zu hörende Argument gegen Mindestlöhne hinterlassen. Jeder müsse von seiner Hände Arbeit leben können, forderte der Manager unter Berufung auf den Papst, und es gehe nicht an, dass der Staat den Konkurrenten der Post einen Teil der Lohnrechnung abnehme. Viele Leser greifen diese Argumentation auf und weisen darauf hin, dass Lohnzuschüsse die Unternehmen veranlassen, niedrigere Löhne zu zahlen.
Dies ist zwar eine grundsätzlich korrekte Beschreibung des Geschehens, doch noch lange kein Gegenargument. Erstens verkennt die Formulierung, dass die Unternehmen in vielen Fällen die Gehaltsrechnungen gar nicht zahlen würden, wenn nicht der Staat einen Teil davon übernähme.
Zweitens schiebt sie ein Werturteil bereits auf der Instrumentenebene ein und vernebelt den Blick auf die Ziele Vollbeschäftigung und Existenzsicherung mit einem untergründigen Appell an Neidgefühle. Niemand, der für eine Ausweitung des Systems der Zuzahlungen über die Agenda 2010 hinaus plädiert, um auf diese Weise einen Niedriglohnsektor zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit zu schaffen, würde den Lohnsenkungseffekt bestreiten.
Lohnspirale nach unten
Im Gegenteil, genau darum geht es doch! Sinn und Zweck der Zuzahlungen ist es, die impliziten Mindestlöhne des deutschen Sozialsystems zu senken, weil es nur so für die Unternehmen rentabel wird, die dringend benötigten Stellen im Bereich der Geringqualifizierten einzurichten, ohne dass dabei Gesamteinkommen entstehen, von denen man nicht leben kann. Ohne die Zuzahlungen könnte man die neuen Stellen nur um den Preis der Verarmung breiter Bevölkerungskreise schaffen.
Viele befürchten sogar, es werde eine Lohnspirale nach unten losgetreten, die keinen Halt mehr findet. Diese Befürchtung ist aber unbegründet, denn die Senkung der impliziten Mindestlöhne verliert mit der Annäherung an die Vollbeschäftigung ihre Wirkung. Die tatsächlichen Löhne finden dort ihren festen Halt, wo die impliziten Mindestlöhne jene Löhne erreichen oder unterschreiten, die die Marktwirtschaft auch von allein gefunden hätte.
"Mindestlöhne unterminieren die Gesellschaft"
Niedrigere Löhne sind nicht möglich, weil die Arbeitgeber beginnen würden, mit höheren Lohnangeboten um die knapp gewordenen Arbeitnehmer zu konkurrieren. Deswegen kann man mit hinreichend hohen Zuzahlungen Vollbeschäftigung und eine Einkommenserhöhung im Niedriglohnsektor zugleich erreichen.
Kosten für Staat und Gesellschaft
Eine Reihe von Lesern äußert Bedenken, dass dieser Weg den Staat und damit den Steuerzahler zu viel Geld kostet. Diese Bedenken kann man zerstreuen, denn es geht ja um die Alternativen, entweder Menschen mit Arbeit zu bezuschussen oder ohne Arbeit komplett zu bezahlen.
Letzteres kostete Deutschland im Jahr 2007 etwa 60 Milliarden Euro (ALG I, ALG II ohne Aufstocker, Frührente), und im Jahr 2005, als die Arbeitslosigkeit noch viel höher war, kostete es 75 Milliarden Euro. Dabei sind die Verwaltungskosten der Bundesagentur für Arbeit noch gar nicht berücksichtigt.
Die Lohnzuschüsse im Rahmen des ALG II kosteten demgegenüber im Jahr 2007 nur etwa acht bis neun Milliarden Euro. Hieran zeigt sich, welch riesige Spielräume für eine Effizienzverbesserung des deutschen Sozialsystems sich ergeben, wenn man mit Lohnzuschüssen den Weg zu mehr Beschäftigung wählt.
Gesetzliche Mindestlöhne würden demgegenüber die Beschäftigung senken, was die Soziallasten des Staates erhöht und die Steuereinnahmen zusammen mit dem Volkseinkommen verringert. Den Nachteil hätten nicht in erster Linie die Unternehmen, die durch die Automatisierung der Produktion und Abwanderung reagieren können, sondern vor allem die immobilen Steuerzahler und diejenigen, die die höheren Preise für die lokalen Dienstleistungen zu zahlen hätten.
Viele Deutsche sind offenbar auch deshalb für den Mindestlohn, weil sie glauben, dass er nicht von ihnen selbst, sondern nur von den Unternehmen bezahlt werden muss. Davon kann indes keine Rede sein. Das Kapital wird immer dahin gehen, wo es die höchsten Renditen gibt, und schon Karl Marx hat erkannt, dass dies auf längere Sicht zum Ausgleich der Profitraten führt.
Der bessere Sozialstaat
Da Deutschland seine Grenzen nicht zumachen kann, wird das Kapital stets eine Rendite erwirtschaften, die mit den Werten in anderen Ländern vergleichbar ist, und langfristig in der Lage sein wird, sämtliche Zusatzkosten in die Preise zu überwälzen. Mindesteinkommen zu sichern, kostet die Allgemeinheit keinen Cent, aber Mindestlöhne müssen alle, die sie fordern, über Steuer- und Preiserhöhungen doppelt bezahlen.
Eigentlich sollten den Deutschen die Erfahrungen mit dem Mindestlohn reichen. Der auf der Idee des Lohnersatzes gegründete Sozialstaat, wie er von Willy Brandt und seinen Nachfolgern entwickelt wurde, hat gezeigt, was Mindestlöhne bewirken. Der Kahlschlag bei den Arbeitsplätzen, der durch die Lohnkonkurrenz des Sozialstaates hervorgerufen wurde, hatte Deutschland seiner Dynamik beraubt und im internationalen Vergleich weit zurückgeworfen.
Westdeutschland fiel in der Zeitspanne von 1970, dem ersten Jahr nach dem Beginn der sozialliberalen Koalition, bis zum Jahr 2005, als die Agenda 2010 Gesetz wurde, beim Sozialprodukt pro Kopf vom zweiten auf den neunten Platz der fünfzehn alten EU-Länder zurück. (Und das hat nichts mit der deutschen Vereinigung zu tun, denn das Sozialprodukt ist das Nationaleinkommen vor Abzug der öffentlichen Mittel, die Westdeutschland für Ostdeutschland bereitstellt.) Verheerender hätte das Urteil der Geschichte über das deutsche Sozialexperiment kaum ausfallen können.
Aber nicht nur den wirtschaftlichen Niedergang, den die deutsche Mindestlohnstrategie hervorgerufen hat, muss man mit Sorge zur Kenntnis nehmen. Besonders schlimm war, dass durch das viele Geld, das der Sozialstaat unter der Bedingung der Nichtarbeit zur Verfügung gestellt hat, ein System geschaffen wurde, das ältere Arbeitnehmer aus dem Sozialverbund der Arbeitsgesellschaft ausgestoßen und vielen jüngeren von vornherein die Chance genommen hat, ihm beizutreten.
Mindestlöhne unterminieren die Stabilität und soziale Kohärenz der Gesellschaft. Zuzahlungen zur Erreichung eines Mindesteinkommens erreichen das genaue Gegenteil. Nur sie machen es möglich, jeden zu integrieren und ihm die Hoffnung auf einen anerkannten Platz in der Arbeitswelt zu geben.
Chance zur Selbstverwirklichung geraubt
Ich habe nie verstanden, wieso man glauben konnte, arbeitsfähigen Menschen helfen zu können, indem man ihnen immer mehr Geld fürs Wegbleiben statt fürs Mitmachen gibt. Ob ich an Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberale oder Grüne denke: Nirgends entdecke ich eine ethische Grundhaltung, die die Selbstverwirklichung des Menschen in der Arbeitslosigkeit zur gesellschaftlichen Priorität erklären würde.
Deshalb scheint mir die Entwicklung unseres Landes eher auf einem unbeabsichtigten Konstruktionsfehler unseres institutionellen Systems als auf einem rationalen Plan wirtschaftskundiger Politiker zu beruhen. Wir können und müssen diesen Konstruktionsfehler überwinden, indem wir einen aktivierenden Sozialstaat schaffen.
Die Agenda 2010 hat gezeigt, in welche Richtung man gehen muss, um Erfolg zu haben. Dabei geht es nicht um Sozialabbau, sondern um das genaue Gegenteil. Unsere Sozialstandards müssen wir verteidigen und verbessern, aber wir müssen die Bedingungen, unter denen wir staatliches Geld zur Verfügung stellen wollen, überdenken.
Mehr fürs Mitmachen, damit wir weniger fürs Wegbleiben bezahlen müssen, das sollte die Devise der staatlichen Sozialpolitik sein. Wenn wir diese Devise beherzigen, werden gerade auch jene Menschen in unserem Land wieder eine Perspektive haben, denen der Sozialstaat alter Prägung die Chance zur Selbstverwirklichung geraubt hat."
Der Ökonom Hans-Werner Sinn leitet das Ifo-Institut in München.
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