Ehemaliger Präsident des ifo Instituts gehört zu den prägenden Köpfen bei wirtschafts- und sozialpolitischen Debatten.
Lass doch den Bart stehen! Dem Wunsch seiner Frau Gerlinde hat sich Hans-Werner Sinn, vor knapp 50 Jahren noch ein Studentan der Universität in Münster, nicht widersetzt. Der markante Bart, der an Kapitän Ahab aus "Moby Dick" erinnert, blieb dran. Und ist längst das Markenzeichen des vielfach ausgezeichneten Finanzwissenschaftlers, der nach Bestsellern wie "Ist Deutschland noch zu retten?" und unzähligen Talkshow-Auftritten und Medieninterviews als Deutschlands bekanntester Ökonom gilt.
Auch zwei Jahre nach seinem Abschied als Präsident des Münchener ifo Instituts für Wirtschaftsforschung ist Hans-Werner sinn als Experte gefragt. "Käpt'n Ifo sagt Tschüss", titelte seinerzeit "Spiegel Online". Heute erstellt Sinn Gutachten für den Wissenschaftlichen Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums, referiert an der Universität Luzern, verfasst Beiträge in der "WirtschaftsWoche" und in der "Zeit" oder diskutiert bei "Markus Lanz".
Seine steile wissenschaftliche Karriere überrascht, wenn man auf den Lebensweg des Wahl-Bayern zurückblickt: "Ich komme aus den einfachen dörflichen Verhältnissen einer jungen Familiein in Westfalen", schreibt Hans-Werner sinn in seiner Autobiographie "Auf der Suche nach der Wahrheit", die passend zu seinem 70. Geburtstag in diesem Jahr erschienen ist.
Geboren wird er 1948 in Brake, das mittlerweile zu Bielefeld gehört. "Als ich dort aufwuchs, war Brake ein kleines Bauerndorf mit wenigen Einwohnern und sehr viel Land", sagt Hans-Werner Sinn im Gespräch mit dem WESTFALEN-SPIEGEL. Seine Eltern arbeiten hart für die Familie: die Mutter, eine ausgebildete Friseurin, in einer Fahrradfabrik, der Vater schlägt sich als LKW-Fahrer durch. Die Familie lebt in einer kleinen Sozialwohnung. Bis zum Alter von zehn Jahren wächst der Sohn jedoch vornehmlich bei seinen Großeltern in Brake auf. Als Einziger seiner Dorfschulklasse schafft er den Sprung auf das Gymnasium in Bielefeld.
Die sozialdemokratisch eingestellte Familie prägt Hans-Werner Sinn politisch. Zunächst. Er engagiert sich bei den "Falken", der damaligen Jugendorganisation der SPD, und schätzt Willy Brandt. Als er zum Volkswirtschaftsstudium nach Münster geht, fühlt er sich der 68er-Bewegung nahe, nimmt an Demos wie gegen den Vietnamkrieg teil. Doch im Laufe seines Stiduiums hält er die Argumente der Wirtschaftswissenschaften für überzeugender: Von linken Ideen wendet er sich immer mehr ab.
Von seinem Studium ist Hans-Werner Sinn begeistert, an den Wochenenden fährt er nebenher in Bielefeld Taxi. Doch auch das Studentenleben kommt nicht zu kurz: "Wir sind im Sommer zum Baden zur Kanalüberführung gefahren udn haben die wunderschönen Cafés und Gaststätten nahe der Promenade genossen", erinnert er sich.
In Münster lernt Hans-Werner Sinn Gerlinde kennen, "die Liebe meines Lebens". Die beiden heiraten und beziehen eine winzige Wohnung. 1974 wechselt das Paar an die Unversität Mannheim, wo Hans-Werner Sinns wissenschaftliche Laufbahn Fahrt aufnimmt. Seine Dissertation erhält einen Preis, für zwei Jahre wird er Assistenz-Professor in Kanada. 1984 ziehen die Sinns - mittlerweile eine fünfköpfige Familie - nach Bayern, weil Hans-Werner Sinn an der Ludwig-Maximilian-Universität München den Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre und Versicherungswissenschaft übernimmt, zehn Jahre später den für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft.
Sinn reist durch die ganze Welt, hält Vorträge, forscht, lehrt, oft auch im Rahmen von Gastprofessuren von Oslo bis Stanford. Er begegnet vielen Staatschefs, schreibt Bücher, die wirtschafts- und finanzpolitische Debatten anstoßen, bekommt zahlreiche Auszeichnungen. 1999 wird er Präsident des ifo Instituts (bekannt durch den ifo-Geschäftsklimaindex), das er "zu einem der führenden europäischen Wirtschaftsforschungsinsitute" entwickelt hat, lobt der Senat der Leibniz-Gemeinschaft im Jahr 2013.
In der Öffentlichkeit ist Sinn umstritten: Kritiker werfen ihm vor, "marktradikale" oder "neoliberale" Positionen zu vertreten, weil er einer der Vordenker der "Agenda 2010" ist und die Gemeinschaftshaftung für die Schulden der Euroländer ebenso ablehnt wie den gesetzlichen Mindestlohn. Der streitfreudige Sinn hält dagegen, dass er die Soziale Marktwirtschaft für das beste Gesellschaftsmodell halte und dass er ein überzeugter Europäer sei. "Ich bin auch deswegen Ökonom geworden, weil ich die Gesellschaft besser machen wollte", sagt er.
Und wie beurteilt er die wirtschaftliche Lage in Ostwestfalen? Der Bielefelder Raum sei durch die Abwanderung der Textilindustrie enorm geschwächt worden, sagt Hans-Werner Sinn. "Da sehe ich aber gute Kompensationen durch viele neue mittelständische Firmen im Bereich des verarbeitenden Gewerbes, aber auch im Bereich der Computer- und Software-Entwicklung. Der Strukturwandel verschafft Bielefeld eine neue Dynamik."
In seine alte Heimat komme er regelmäßig zurück, erzählt Hans-Werner Sinn: um seine Mutter und Verwandte zu besuchen und Klassenkameraden zu treffen. Und um Wurstebrei mit gekochten Kartoffeln zu essen - seit seiner Kindheit eines seiner Lieblingsgerichte.