Project Syndicate, 27. November 2015
Während der Krise haben die nördlichen Euroländer die südlichen gerettet, indem sie die unbegrenzten Beistandsversprechen der EZB trugen und außerdem noch riesige Rettungsschirme finanzierten. Doch als Deutschland ein Quotensystem für die Flüchtlinge verlangte, ließ man es auflaufen. Angela Merkel wird gelobt, wenn sie ihre Geldbörse aufmacht, doch wird es um sie einsam, wenn sie selbst Solidarität einfordert. Und nun, da Frankreich dem ISIS den Krieg erklärt, zucken die anderen EU-Länder nur mit den Schultern. Sie sprechen die nötigen Lippenbekenntnisse zu Frankreich, doch insgeheim hoffen sie alle, dass der Dschihad nicht zu ihnen kommt. Währenddessen kommen hunderttausende Moslems ohne Kontrolle und Registrierung in die EU, vor allem nach Deutschland.
Diese Ereignisse zeigen, dass Europa dringend eine politische Union braucht. Der Kontinent hat mittlerweile erhebliche Schritte in die Richtung einer Fiskalunion getan, doch ist er Lichtjahre von einer politischen Union entfernt. Ein halbes Jahrhundert nach der Gründung des Gemeinsamen Marktes und ein viertel Jahrhundert nach der Einführung einer gemeinsamen Währung gibt es immer noch keinen gemeinsamen Außenminister, keine gemeinsame Außenpolitik, keine einheitliche Immigrationspolitik, kein gemeinsames Asylrecht, keine gemeinsame Polizei und insbesondre keine gemeinsame Armee. Trotz all der heiligen Schwüre der Vereinigungspolitiker gibt es immer noch 28 Armeen mit 28 separaten Leitungen, die durch die NATO nur locker zusammengebunden sind.
Einige wie Francois Hollande und Jean Claude Junker meinen, Europa müsse sich nun noch mehr der Fiskalunion annähern. Man benötige eine gemeinsame Absicherung für die Sparkonten, ein gemeinsames Budget, gemeinsame Schuldverschreibungen, mehr Versicherung gegen finanzielle Risiken und eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung. Das aber ist nicht wahr, da diese Maßnahmen nur die falsche Struktur der relativen Preise zementiert, die die Euro-Kreditblase hervorbrachte, und damit die Arbeitslosigkeit in Frankreich und Südeuropa erhält. Den Fehler, den man mit der Einführung des Euro gemacht hat, würde man nur noch vergrößern. Die Maßnahmen, die Hollande und Junker empfehlen, würden Europa in einen Schuldensumpf führen, weil sie die Zinsunterschiede weiter verringern würden, den Kapitalmarkt seiner Kontrollfunktion berauben und Blasen bilden würden. Europa würde die Fehler wiederholen, die die USA nach ihrer Gründung machten, indem sie in mehreren Runden die Schulden der Einzelstaaten zu Bundesschulden machten und eine gefährliche Kreditblase hervorriefen, der in den Jahren 1835-1842 neun von 29 amerikanischen Staaten und Territorien zum Opfer fielen, weil sie in Konkurs gingen, was den Boden für den amerikanischen Bürgerkrieg bereitete.
Tatsächlich wird der weitere Ausbau der Fiskalunion es immer unwahrscheinlicher machen, dass der Euro eine politische Union wird, weil sich Frankreich der Notwendigkeit enthoben sieht, seine Force de Frappe als Tauschobjekt einzusetzen. Frankreich, das unbestritten die wichtigste militärische Macht des Kontinents ist, hat bislang alle Versuche, die Armeen zusammenzulegen, abgelehnt. So hat die französische Nationalversammlung im Jahr 1954 den Vertrag über die Westeuropäische Verteidigungsunion abgelehnt, und später lehnte das französische Volk die europäische Verfassung ab, die einer stärkeren politischen Union den Weg geebnet hätte. Tatsächlich hat ein französischer Präsident nach dem anderen das Fernziel eines Vereinten Europa abgelehnt.
Andererseits ist Frankreich der große Profiteur einer europäischen Fiskalunion, da sein Bankensystem und seine Industrien auf Südeuropa ausgerichtet sind. So lag das Ausleihvolumen der französischen Banken zur Zeit der Lehman-Krise mit 58 Mrd. Euro beim Doppelten des deutschen, obwohl Frankreich das kleinere Land ist. Es ist nur allzu verständlich, dass Frankreich den gegenwärtigen, ungleichgewichtigen Entwicklungspfad der Europäischen Union aufrechterhalten möchte, doch wenn die anderen Euroländer Frankreich in diesem Punkt nachgeben, werden sie die Chancen für eine politische Integration des Kontinents weiter verringern. Wenn Europa es nicht schafft, die Asymmetrien seines Entwicklungsprozesses zu überwinden, wird es schweren Schaden erleiden.
Vielleicht bringen die hässlichen Attacken der ISIS-Kämpfer Frankreich nun zu einem Einsehen, weil sie dem Elysee-Palast zeigen, dass selbst eine solch große militärische Macht wie Frankreich eine politische Union braucht. Europa muss heute zusammenstehen, um Frankreich beim Kampf gegen die Terroristen und Deutschland, Österreich, Schweden, Slowenien und Ungarn bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise zu helfen. Europa muss seine Grenzen kontrollieren, und es braucht eine gemeinsame Polizei, ein gemeinsames Asylrecht, eine gemeinsame Außenpolitik und vor allem eine gemeinsame Armee, bevor der Weg zur Fiskalunion fortgesetzt wird.
Europa sollte bei seinem Weg dem Beispiel erfolgreicher Bundesstaaten wie der Schweiz oder den USA folgen. Diese Bundesstaaten begannen als militärische Verteidigungsbündnisse und entwickelten sich erst viel später zu Fiskalunionen. Es dauerte Jahrzehnte, ja Jahrhunderte, bis umfangreiche gemeinsamen Budgets zustande gekommen waren und man damit begann, Einkommensrisiken zu vergemeinschaften. Bis zum heutigen Tage gilt die Nicht-Beistandsregel, nach der der Bund oder die Zentralbank bedrohten Einzelstaaten oder Kantonen nicht hilft, wenn eine Pleite droht. Es ist nun an der Zeit, Europa vom Kopf auf die Füße zu stellen, indem man endlich von weiteren dubiosen Maßnahmen zur Vergemeinschaftung der Geldbörsen Abstand nimmt und statt dessen sich den Gebieten zuwendet, bei denen Solidarität und Gemeinschaftsaktionen wirklich gefragt sind.