Neue EU-Staaten im Fokus des Außenwirtschaftstages Bayern im Nürnberger Messezentrum
Trotz erheblicher Leistungsbilanzdefizite werden die neuen EU-Staaten die Wirtschaftswundernationen der kommenden Jahre werden. Dieser Ansicht ist Pof. Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchner ifo-Instituts. "Alle diese Staaten haben im Durchschnitt bis zu sechs Prozent Wachstum jährlich - mit Ausnahme von Tschechien, das nur um 3,1 Prozent gewachsen ist', so Sinn beim Außenwirtschaftstag Bayern im Messezentrum Nürnberg, der unter dem Motto "Geschäftschancen in den neuen EU-Beitrittsländern Mitteleuropas" steht.
Aber gegenüber der alten EU mit Wachstumsraten von im Schnitt 2,1 Prozent seien die seit 1. Mai dieses Jahres zur EU gehören den Staaten die klaren Boomregionen Europas. Während das Baltikum, Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Slowenien noch lange Zeit mehr konsumieren werden, als sie selbst herstellen, werde Deutschland mit seinem Leistungsbilanzüberschuss von allein 2,9 Prozent im letzten Jahr weiterhin erheblich zum Aufbau in diesen Ländern beitragen. "Es findet ein regelrechter Kapitalexport in diese Länder statt", erklärt Sinn.
Auch Bayerns Wirtschaftsminister Otto Wiesheu verdeutlicht die wachsende Dynamik der Außenhandelsbeziehungen Bayerns mit den acht neuen EU-Mitgliedsländern und den beiden Beitrittsländern Bulgarien und Rumänien, die ab 2007 in die EU kommen sollen. So sei das Handelsvolumen Bayerns mit diesen Ländern überdurchschnittlich stark um fünf Prozent auf fast 24 Milliarden Euro gestiegen. Tschechien ist inzwischen viertwichtigster Handelspartner Bayerns innerhalb der neuen EU. Ungarn steht an siebter Stelle. Die größten Exportzuwächse seien im Jahr 2003 mit Slowakei (30,6 Prozent), Bulgarien (20,1 Prozent), Estland (19,1 Prozent), Rumänien (17,1 Prozent) und Polen (13,6 Prozent) realisiert worden. Und dieser Trend setzt sich laut Wiesheu fort. Allein im ersten Quartal dieses Jahres gab in diese Nationen Exportzuwächse im zweistelligen Bereich. Auch die bayerischen Importe aus den Staaten Mittel- und Osteuropas haben sich Wiesheu zufolge von drei Milliarden Euro im Jahr 1993 auf 13 Milliarden Euro im Jahr 2003 mehr als vervierfacht. Gründe für weitere Wachstumspotenziale sieht er im freien Warenverkehr, der Öffnung der Kapitalmärkte (bis auf wenige Einschränkungen beim Erwerb von Agrar- oder Forstland), der weitgehenden Dienstleistungsfreiheit, der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Übernahme des Gemeinschaftsrechts durch die Beitrittsländer. "Mit der Osterweiterung wird die EU zum größten und kaufkräftigsten Binnenmarkt der Welt mit 450 Millionen Verbrauchern", sagt Wiesheu. Allein durch die jetzt vollzogene EU-Osterweiterung werde sich die Wirtschaftsleistung Bayerns um 1,7 Prozent erhöhen. Außerdem werde ein langfristiger Beschäftigungsgewinn für den Freistaat von bis zu einem Prozent zu verzeichnen sein.
Für bayerische Firmen sieht der Minister zusätzliche Absatzmöglichkeiten in unmittelbarer Nähe. Das sei ein "Ventil" für die mangelnde Binnennachfrage in Deutschland. Ein hoher Investitionsbedarf, allein im Bereich der Umwelttechnik seien 100 Milliarden Euro erforderlich, in diesen Ländern sichere Bayern auch weiterhin eine hohe Exportquote in diese Länder. Wiesheu sieht auch Verbesserungschancen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit durch weitere Spezialisierung und Zukauf einfacher Produktionsteile - Stichwort "Mischkalkulation". Insgesamt bewertet er die EU-Osterweiterung als eine "win-win-Situation" für alle beteiligten Volkswirtschaften.
Weniger rosig sieht Hans-Peter Schmidt, Präsident der Industrie - und Handelskammer Nürnberg für Mittelfranken, die neue Lage in der EU. Obwohl er ausdrücklich betont, dass sich Bayern inzwischen zu einem wahrhaftigen "Kompetenzzentrum Ost" entwickelt hat. "Wir alle wissen: Politisch ist unser Land nicht gut vorbereitet auf die EU-Erweiterung. Wir vermissen angemessene Rahmenbedingungen vor allein im Rechts- und Steuerbereich", so Schmidt. Verbliebene Beschränkungen im Marktzugang seien ebenso zu beklagen wie das zu hohe Fördergefälle. Deutschland leide unter Finanzierungsproblemen und zu geringer Gründungshilfe. Deshalb seien neue Ideen gefragt und bitter notwendig. "Möglichkeiten sehe ich im Ausbau der staatlichen Exportförderung, in der Förderung von Kooperationen und der wissenschaftlich-technologischen Zusammenarbeit", erläutert Schmidt. Am Ende werde die EU-Osterweiterung aber mit der weiter wachsenden Wirtschaftsverflechtung "friedensstiftend und wohlstandsmehrend" sein.
Wohlstandsreduzierend sieht aber ifo - Präsident Sinn die kommenden Jahre für deutsche Arbeitnehmer. Während in Deutschland die Arbeitskosten im Schnitt bei 27,15 Euro die Stunde (West) bzw. 19,49 Euro (Ost) liegen, bewegen sie sich in Osteuropa bei "teueren" 5,28 Euro in Ungarn und 5,31 in Tschechien sowie bei "billigen" 1,53 Euro in Bulgarien und 1,72 in Rumänien. Im Durchschnitt seien es also nur 15 Prozent des deutschen Lohnniveaus. "Da kann ich nur lachen, wenn jemand die Osterweiterung mit der Süderweiterung vor ein paar Jahren vergleicht und hofft, dass alles genauso gut läuft wie mit Portugal, Spanien und Griechenland", so Sinn. Spanien und Portugal hatten laut Sinn zum Zeitpunkt des EU-Beitritts etwa 50 Prozent des deutschen Lohnniveaus. Selbst wenn sich die Angleichung der Löhne in Osteuropa "rasend schnell" entwickeln wird, so sei im Jahr 2020 erst mit 40 Prozent des deutschen Lohnniveaus zu rechnen - unter der Voraussetzung, dass die Wirtschaft in diesen Ländern jährlich um elf Prozent wachse. "Das alles sind auch weiterhin riesige Chancen für Investoren, aber Risiken für Unternehmer und Arbeitnehmer hier", sagt Sinn. In den letzten Jahren hätten deutsche Unternehmen im Ausland - also auch China und andere Staaten mitgerechnet - 2,5 Millionen Arbeitsplätze geschaffen: "Deutschland entwickelt sich zu einer Basarökonomie. Teile werden im Ausland gekauft und in Deutschland montiert. Bestes Beispiel ist der neue Porsche Cayenne, der zu 80 Prozent in Bratislava hergestellt wird und dem in Deutschland nur noch die Lenkung eingebaut wird. Doch nach seinem Export in die USA steht er zu 100 Prozent in der deutschen Leistungsbilanz."
Sinn sieht die deutschen Arbeitnehmer ganz klar mit polnischen oder tschechischen Arbeitnehmern im Wettbewerb: "Die Löhne gleichen sich auf beiden Seiten an". Deshalb sei es enorm wichtig, dass endlich das im internationalen Vergleich besonders große deutsche Sonderproblem des Heeres von nicht bzw. gering qualifizierten Arbeitslosen gelöst werde. Länger Arbeiten, Öffnungsklauseln bei der Tarifpolitik, frei zu vereinbarender Kündigungsschutz, weiter Steuersenkungen sowie eine aktivierende Sozialhilfe seien Bausteine, die dem deutschen Arbeitsmarkt helfen können, glaubt Sinn.
Indizien für die Richtigkeit seiner Annahmen, kann man jedenfalls schon erkennen an Hartz IV, seit Jahren stagnierender bzw. rückläufiger Realeinkommen in Deutschland und den von Unternehmern bereits jetzt beklagten, gestiegenen Lohnkosten in den neuen EU-Staaten.
Ralp Schweinfurth