Alternative zur Alternativlosigkeit

Presseecho, Jens Münchrath, handelsblatt.com, 26.08.2016

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Hans-Werner Sinn hat eine umfassende Chronik der Euro-Krise geschrieben - schonungslos offen, analytisch scharf und dabei auch noch konstruktiv.

Wer kennt nicht Hans-Werner Sinn? Jenen ehemaligen Chef des Münchener Ifo-Instituts, der jahrzehntelang die wirtschaftspolitischen Debatten des Landes geprägt hat wie kein anderer. Nicht selten waren seine Beiträge umstritten, manchmal waren sie provozierend, ja polemisch. Aber immer waren sie ökonomisch fundiert.

Sein jüngstes Buch ist so etwas wie das wirtschaftspolitische Vermächtnis des 68-Jährigen. „Der Euro: Von der Friedensidee zum Zankapfel", hat Sinn seine Streitschrift genannt. Der Begriff „Zankapfel" klingt dabei fast verniedlichend, wenn man bedenkt, worum es hier wirklich geht: um die Frage, ob die Einführung des Euros, der das historische Projekt der europäischen Integration vollenden sollte, ein Irrweg war oder nicht.

„Es ist das wichtigste Buch, das ich je geschrieben habe", sagt Sinn selbst. Tatsächlich ist die Streitschrift einzigartig, sowohl was ihre Forschungsintensität angeht, als auch ihre politische Relevanz. Das Buch ist die umfangreichste Chronik und Analyse der Euro-Krise. Auf mehr als 500 Seiten beschreibt Sinn die Fehler der Währungsunion und vor allem auch die Fehler, die begangenen wurden, um das Projekt zu retten. Sinn schreibt schonungslos offen, analytisch scharf und untermauert seine Thesen mit einer beeindruckenden Vielfalt an Statistiken und Grafiken.

Der Euro, so Sinn, habe die südlichen Länder in eine Kreditblase getrieben. Konsumenten, Unternehmen und auch der Staat verschuldeten sich - erst mit Hilfe des Kapitalmarkts und dann, als die Pleite von Lehman Brothers die Finanzmärkte verunsicherte, mit Hilfe der Notenpresse der Europäischen Zentralbank (EZB). Der Anreiz zu sparen tendierte aufgrund der mit dem Euro einhergehenden günstigen Finanzierungsbedingungen gegen null. Auch die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu steigern schien nicht zwingend notwendig. Die Wirtschaft und die Nachfrage boomten schließlich - wenn auch kreditfinanziert.

Es kam, wie es kommen musste. Die Kreditblase platzte, und die Volkswirtschaften wurden gerettet - durch die unvorstellbar großen Rettungspakete der Euro-Partner und die spektakulären Aktionen der EZB.

Die große Leistung Sinns besteht darin, dass er als einer der ersten Ökonomen wirklich verstanden hat, dass die Krise viel mehr ist als nur eine Staatsschuldenkrise. Sie ist eine Folge der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit ganzer Volkswirtschaften vor allem im Süden des Kontinents. Ablesen lässt sich dieses Phänomen an deren hohen Leistungsbilanzdefiziten. Land für Land analysiert Sinn in seinem Buch - die empirische Kraft seiner Thesen ist erdrückend, die scheinbare Ausweglosigkeit der Lage ernüchternd.

Eigentlich müssten die Krisenländer „deflationieren", um wieder wettbewerbsfähig zu werden, wie Sinn es ausdrückt. Die Löhne und Preise müssten also sinken. Doch Sinn ist politisch nicht naiv. Er weiß, dass Deflation ein langwieriger, schmerzhafter Prozess mit vielen Pleiten und einer menschenunwürdig hohen Arbeitslosigkeit bedeutet, der politisch gar nicht durchsetzbar wäre.

Doch ebenso unrealistisch ist es aus Sicht des Ökonomen, dass die Steuerzahler der Geberländer es langfristig akzeptieren, für die überschuldeten Länder einzustehen und sie auf ewig zu alimentieren.

Der Streit zwischen den Euro-Partnern scheint also unvermeidlich - aus der einstigen Friedensidee ist eine große Bedrohung für den Frieden geworden, so Sinn. Als Beleg dafür, dass der bisherige Weg scheitern muss, begibt sich Sinn tief in die amerikanische Geschichte. Der erste Finanzminister der USA, Alexander Hamilton, hatte die Schulden der Bundesstaaten, die zur Finanzierung des Sezessionskriegs aufgenommen wurden, zu Bundesschulden gemacht. Er hoffte, damit die Union zusammenschweißen zu können. Doch die Aussicht, auch künftig die Schulden auf den Bund abwälzen zu können, trieb die Staaten weiter in die Verschuldung. Auf den Kreditboom folgte die Pleite. Die Amerikaner zogen ihre Lehre: Weder der Bund noch die Notenbank springen seither für die Schulden eines Bundesstaats ein.

Sinn hält dies für den einzig richtigen Weg. Um die jetzige Krise zu überwinden, fordert er einen großen Schuldenschnitt für die Krisenländer. Alle Länder, die den Schuldenerlass bekommen, sollen dann zeitweise die Währungsunion verlassen, um so über eine Abwertung ihrer Währung wieder an Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen. Später könnten sie wieder beitreten und die Europäer sich als Staatenbund neu organisieren. Es wäre eine „atmende Währungsunion", in die Länder eintreten und aus der sie austreten können.

Wie realistisch ein solcher Ansatz ist, sei dahingestellt. Der ewige Streit um einen Schuldenschnitt in Griechenland und auch die Furcht der Krisenstaaten, außerhalb der Währungsunion ungeschützt den Finanzmärkten ausgeliefert zu sein, wecken zumindest Zweifel an der Durchsetzbarkeit einer solchen Politik. Aber es ist zumindest der Versuch, die scheinbare Alternativlosigkeit der derzeitigen Politik des Durchwurstelns zu entlarven. Einer Politik, von der jeder nur eines weiß: Der nächste Rettungsgipfel und Tabubruch der Notenbank werden kommen.

Trotz aller Skepsis und Kritik - Sinn ist kein Fatalist. Und jedes Kapitel seines Buchs atmet einen konstruktiven Geist, der in der Hoffnung gipfelt, dass irgendwann dann doch die „Vereinigten Staaten von Europa" gegründet werden.

 Rezension von Jens Münchrath