Volkswirte im Praxistest Von Dorit Hess
Was halten die Bürger von dem, was Top-Volkswirte theoretisch erforschen und als hochwissenschaftliche Wahrheiten verbreiten? Stippvisiten von Bert Rürup, Hans-Werner Sinn, Thomas Straubhaar und Michael Heise geben Antworten.
„... nicht an der Theorie (liegt es),
wenn sie zur Praxis noch wenig taugt,
sondern daran, dass nicht genug
Theorie da war.“ (Immanuel Kant)
BERLIN/DARMSTADT. Es ist 8.30 Uhr, ein eiskalter Wintermorgen. Wer nicht vor die Tür muss, lässt es sein. Und trotzdem: Eine Darmstädter Sporthalle ist um diese Zeit schon prall gefüllt. Mehr als 80 Füße laufen in Turnschuhen und Gymnastikschläppchen eine Runde nach der anderen. Seit durchschnittlich länger als 75 Jahren tragen sie ihre Besitzer schon durchs Leben. Und das soll auch noch einige Jahre so bleiben: Wer im Seniorensportclub mitläuft, will gesund alt werden – und seine Rente lange genießen.
„Ich bin stark beeindruckt, dass sie so fit sind“, sagt einer, der erstmals an diesem Morgen mitjoggt – und mit 62 Jahren deutlich jünger als die allermeisten seiner neuen Sportskameraden ist. „Damit ärgern wir ja den Staat“, sagt der Adressat dieser Worte schnaufend, aber mit einem zufriedenen Lächeln im wohlig gebräunten Gesicht.
Der Neuling unter den Darmstädter Sportlern ist Bert Rürup. Sein Gesprächspartner einer von mehr als 40 Rentnern, die Woche für Woche zusammen Frühsport treiben. An diesem Wintermorgen haben sie den bekannten Universitätsprofessor ihrer Heimatstadt, den sie bislang nur aus dem Fernsehen als Vorsitzenden des Sachverständigenrates und Namensgeber der Rürup-Kommission kennen, eingeladen, um mit ihm zu turnen – und, vor allem, um mit ihm über die Tücken des deutschen Rentensystems zu diskutieren.
Statt mit Schlips und Kragen in T-Shirt und Joggingschuhen; statt im Hörsaal oder im Fernsehstudio in der Sporthalle, an der Zapfsäule oder auf der Werft im Hamburger Hafen – Rürup gehört neben den Kollegen Thomas Straubhaar, Hans-Werner Sinn und Michael Heise zu gut einem Dutzend deutscher Top-Ökonomen, die sich auf ein Projekt der Deutschen Welle eingelassen haben, das folgende Fragen beantworten soll: Bestehen ihre viel diskutierten Theorien den Praxistest? Was halten die Bürger von dem, was die Denker erforschen, analysieren und als hochwissenschaftliche Wahrheiten verbreiten?
„Ein wissenschaftlicher Politikberater, dessen Ideen und Vorschläge sehr weitgehend umgesetzt worden sind, muss den Mut haben, sich auch mit den Betroffenen auseinander zu setzen“, sagt Rürup, in diesem Moment ganz Theoretiker. Mut, sich mit Betroffenen auseinander zu setzen – das sieht in der Wirklichkeit so aus:
Darmstadt, Turnhalle auf dem Merck-Gelände
Mehrere Runden joggen, Matte hinlegen, draufsetzen und den genauen Anweisungen des 79-jährigen Übungsleiters Hartmut Brauer folgen. „Sie passen jetzt mal auf, was ich sage: Nur die Fußgelenke drehen, das ist besonders wichtig, wenn es Glatteis gibt.“
Glatteis muss Wissenschaftler und Politikberater Rürup sonst vor allem auf dem politischen Parkett fürchten. Und an diesem Morgen?
„Wenn ich meine Renten von 2003 und 2004 vergleiche, fehlt mir jetzt eine Monatsmiete, komplett“, wirft Wilhelm Schuster dem deutschen Rentenexperten vor.
Solche Kritik bringt den nicht aus der Ruhe: „Dann müssen Sie aber neben Ihrer gesetzlichen Rente eine recht gute Betriebsrente bekommen, von der Sie vor 2004 keine Krankenversicherungsbeiträge gezahlt haben.“ Denn: Gekürzt wurde die gesetzliche Rente nicht.
Rürup ist geübt im Argumentieren: „Haben denn die Arbeitnehmer in diesen Jahren spürbare Lohn- und Gehaltssteigerungen gehabt?“ fragt er und antwortet schnell selbst: „Im Durchschnitt auch nicht.“
Das ist seinem Gegenüber egal. 40 Jahre habe er dafür gearbeitet. „Das ist Geld, was wir einbezahlt haben“, schimpft Schuster. Rürup weiß das besser: „Sie haben mit Ihren Beiträgen die Rente Ihrer Eltern bezahlt. Und die heute Jungen finanzieren mit ihren Beiträgen jetzt Ihre Rente. Das heißt, mit den eigenen Rentenversicherungsbeiträgen zahlt man in unserem System immer die Renten der jeweiligen Alten.“ Schuster überzeugt auch das nicht.
Die zweite Diskussionsrunde absolviert Rürup Stunden später im Wohnpark Kranichstein. In dieser Darmstädter Seniorenresidenz hat sich der Wissenschaftler mit seiner Frau eine Option gesichert, mit 70 Jahren ohne Wartezeit eine Wohnung inklusive Betreuung mieten zu können.
Als Betreuerin arbeitet hier Dorothee Pacht. Die 38-Jährige wird einmal spürbare Leistungsrückgänge hinnehmen, steigende Beitragssätze zahlen und bis 67 Jahre arbeiten müssen.
Dass diese unpopuläre Maßnahme politisch durchgesetzt wurde, verdankt sie auch der Überzeugungskraft Rürups. „Schön finde ich das nicht“, entgegnet die junge Pflegerin dem Wissenschaftler, während beide mit fünf Rentnern Äpfel schälen. „Sie werden doch auch erfreulicherweise sehr viel älter und beziehen deshalb länger Rente“, widerspricht Rürup.
Das kann Pflegerin Pacht nur bestätigen: Die Rentner, die sie in Kranichstein täglich betreut, sind durchschnittlich 86 Jahre alt.
Berlin-Zehlendorf, Esso-Tankstelle, Clayallee 90
Michael Heise, Chefvolkswirt der Dresdner Bank und Allianz, lässt sich nicht in ein Ministerium bringen, wie sonst meist, wenn er aus der Bankenstadt Frankfurt in die Hauptstadt reist. An diesem Tag beobachtet Heise auch nicht auf einem Bildschirm, wie sich die Rohölmärkte entwickeln – sondern er schaut, wie sich der hohe Ölpreis am Benzinmarkt niederschlägt und wie die Verbraucher darauf reagieren. Um des Volkes Stimme zu hören, stellt sich der Chefökonom höchstpersönlich mehrere Stunden an Berliner Zapfsäulen.
„Heise ist mein Name, guten Tag Frau Fischer“, sagt er zu seiner neuen Chefin. „Ich darf mich zum Dienst melden.“ So einen Mitarbeiter, einen, der mit dem Taxi an ihre Tankstelle gebracht wird, einen, der Manschettenknöpfe und eine Seidenkrawatte trägt, hat die kurzhaarige Endvierzigerin noch nie gehabt.
Um ihr beim Dienst am Kunden auch wirklich helfen zu können, verschwindet Heise erst mal hinter der Tür mit dem Schild „Privat“, tauscht seinen Anzug gegen einen Anorak, seine Aktentasche gegen eine Zapfpistole.
Mit einem silbernen Sportwagen fährt Heises erste Kundin vor. Ob sie der hohe Benzinpreis nicht vom Autofahren abhält, will er wissen. Verwundert schaut sie aus ihren stark geschminkten, großen Augen, wirft die blondierte Lockenmähne in den Nacken und kräht: „Sie glauben doch nicht, dass ich mit der Bahn zum Tennis fahre.“ Und schon sieht sich Heise in seiner Theorie bestätigt, und es spricht der Ökonom im „Tankwart“: Benzin sei nahezu „preisunelastisch“.
Was Heise meint und warum Tankstellenpächterin Fischer die Analyse ihres Lehrlings freuen dürfte: Der Preis des Kraftstoffs beeinflusst die Nachfrage kaum.
Und was hat der Theoretiker sonst noch in der Praxis gelernt? Wenig Neues über den Benzinpreis. Aber gleich seine erste Kundin hat Heise gelehrt: „Man sieht, dass der Service geschätzt wird.“ Ganz praktische Ideen lassen sich daraus für den Arbeitsmarkt ableiten, Stichwort serviceorientierte Dienstleistungen.
Berlin-Charlottenburg, Manufactum-Filiale, Hardenbergstraße
Die Maschine von Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchener Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, landet in Berlin um 9.40 Uhr. Es ist der Beginn eines ungewöhnlichen Arbeitstages für den Theoretiker, der mit seiner Basarökonomie auch unter Nichtökonomen von sich reden gemacht hat – und sie nun im Alltag der Hauptstadt testet. Gleicht Deutschland einem Basar? Verdient die größte Volkswirtschaft Europas nur noch damit Geld, Waren umzuschlagen, aber kaum noch etwas selbst herzustellen?
Mit dem Porsche Cayenne macht sich Sinn auf den Weg zu seinem Fronteinsatz. Der Wagen ist in seinen Augen das rollende Beispiel dafür, dass immer mehr Teile eines Autos im Ausland produziert, diese dann hier zu Lande nur noch zusammengeschraubt und schließlich mit dem Label „made in Germany“ versehen werden. „So wird die Exportstatistik frisiert, dem Arbeitsmarkt aber schadet es“, meint Sinn. „Der Wagen wird in Bratislava gebaut. Und die Zulieferer kommen aus Deutschland, lassen aber selber wieder sonst wo im Ausland produzieren“, schimpft er und zieht die hohe Stirn in Falten. Wie viel Spaß er hinter dem Steuer des Kolosses auf den Straßen Richtung Charlottenburg hat, kann er dennoch nicht verbergen.
Hier, im Berliner Westen, wartet die Filiale der Einzelhandelskette Manufactum auf ihn, hier soll er hochpreisige Produkte „made in Germany“ verkaufen. Wer hierher komme, wisse ja, dass er Qualität kaufe – „und das ist größtenteils made in Germany“, sagt Sinn zuversichtlich. „Ich glaube, da wird man die Leute überzeugen können.“ Erster Versuch: ein Messer. Was für ein Stahl das ist, will der Kunde wissen. „Das ist Chrom-Molybden-Stahl.“
Leicht geht das Sinn über die Lippen, er hat sich vorher im Detail über die Auslagen bei der Filialleiterin informiert. „Den brauchen Sie auch nicht so häufig zu schleifen, der hält ein Leben lang“, legt er nach. Trotzdem ohne Erfolg.
Zwei Stunden und nur ein verkauftes Produkt später resümiert Sinn ernüchtert: „Made in Germany“ sei eben nicht alles, noch dazu oft teurer als Importware. „Wenn man selber verkaufen muss, kommt man ins Schwitzen“, gibt der Erfinder der Basarökonomie zu. „Ideen verkaufen ist leichter.“
Hamburg, Hafen, Blohm + Voss
Geht das dem Anhänger der Gegenthese, die Globalisierung sei „das größte Wohlstandsprogramm aller Zeiten“, im Praxistest auch so?
Es ist sechs Uhr morgens, Thomas Straubhaar, Leiter des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts, macht sich in seiner Wahlheimat auf den Weg zu einem Lehrtag im Hafen. Draußen ist die Luft klar und kalt.
Bei Blohm +Voss, einer der ältesten Werften des Landes, will er seine These prüfen, die internationale Arbeitsteilung sei ein Glücksfall für Deutschland.
Ein Glücksfall? „Früher standen wir hier zu fünft“, sagt Holger Tepper, Abteilungsleiter Stahlschiffbau und Straubhaars neuer Kollege. Heute schweißt der Schiffbauer zusammen mit nur noch zwei Kollegen – Straubhaar bereits mitgezählt – an einem Containerschiff. Sie zählen zu den 1 000 Mitarbeitern der Blohm + Voss GmbH in Hamburg – 1975 waren es hier noch 6 600.
Containerschiffe wie das, an dem Straubhaar schwitzt und schweißt, kann die asiatische Konkurrenz billiger bauen. Dass die Hamburger dennoch ihre Marktposition behaupten können, bestätigt die Theorie des Ökonomen: Jeder muss das machen, was er am besten und billigsten kann.
Lukrative Nischen wie die von Blohm + Voss, die Hamburger haben sich auf Luxusyachten und Marineschiffe spezialisiert, sorgen auch im teuren Deutschland weiter für Jobs.
Dass Straubhaar am nächsten Tag wieder an seinen Schreibtisch darf, wenige Kilometer entfernt am feinen Jungfernstieg, scheint ihn trotz aller Überzeugung selbst zu beruhigen. „Ich bin deshalb Professor geworden, damit ich nicht mit den Händen arbeiten muss und mit dem Kopf mein Geld verdienen kann.“
Prominente Hauptdarsteller
Das „Who’s who“ der deutschen Volkswirte – Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchener Ifo-Institutes, Norbert Walter, Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Michael Hüther, Präsident des Institutes der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Heise, Chefvolkswirt der Dresdner Bank/Allianz –, sie alle haben für die erste Staffel der Serie der Deutschen Welle-TV (DW-TV), Kooperationspartner des Handelsblatts, einen Praxistest ihrer Theorien an Tankstellen, in Turnstunden und im Hamburger Hafen mitgemacht.
Praxistest, die Zweite
Die zweite Staffel dieser Serie startet kommenden Dienstag (21. März 2006) um 20.30 Uhr mit Bert Rürup, dem Vorsitzenden des Sachverständigenrats. In der Woche darauf läuft die Reihe „Made in Germany“ jeweils dienstags auf DW-TV um 21.30 Uhr. Es folgen am 28. März Jürgen Pfister, Chefvolkswirt der Bayerischen Landesbank, am 4. April Dennis Snower, Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) und am 11. April Holger Schmieding, Europa-Chefvolkswirt der Bank of America.