Familien stärken, Zuwanderung regeln, Energiewende beenden: Konturen eines Zukunftsprogramms für Deutschland, dargelegt in acht Forderungen
Mehr Lohnflexibilität und Lohnzuschüsse
Es ist ein großer Fehler, dem Zeitgeist folgend, Mindestlöhne beziehungsweise Lohnuntergrenzen abzunicken. Damit verlässt man den Weg zu einer strukturellen Gesundung des Arbeitsmarkts und gefährdet den Niedriglohnsektor, der Deutschland in den letzten Jahren so viel wirtschaftliche Dynamik gebracht hat. Ziel muss es sein, die Lohnflexibilität zu erhalten, um auch die drei Millionen Arbeitslose über die Armutsgefährdungsgrenze zu bringen. Noch stärker als bisher sollte man auf Lohnzuschusselemente setzen. Motto muss sein, dass jeder, der arbeiten will, arbeiten kann und dann - unterstützt durch Lohnzuschüsse - genug zum Leben hat. Nur eine solche Unterstützung der Menschen "in der Arbeit" ist menschenwürdig. Eine Unterstützung allein "außerhalb der Arbeit" ist eine Sünde gegen ihre Würde.
Ein Steuertarif auf Rädern
Eine große Steuerreform ist zwar nach wie vor wünschenswert, aber in der aktuellen Situation wegen der wachsenden staatlichen Zahlungsverpflichtungen und -versprechungen wohl auf absehbare Zeit nicht umsetzbar. Davon unberührt aber kann es nicht angehen, dass der Staat in der inflationär wachsenden Wirtschaft laufend einen größeren Prozentanteil der Leistungen abzieht und nur ab und an einen Teil der so entstandenen Erhöhungen als angebliche Steuersenkungen an die Bürger zurückgibt. Oder dass er gar die Zuwächse behält und sich dann der Haushaltsdisziplin rühmt. Genau diese Effekte aber sind das Ergebnis eines an Nominalwerten ausgerichteten progressiven Einkommensteuertarifs, wie wir ihn haben. Um sie zu verhindern, müssen alle Freibeträge, Freigrenzen und Progressionsgrenzen jährlich automatisch mit der Wachstumsrate des nominalen Sozialprodukts heraufgesetzt werden. Das ist die Idee eines Steuertarifs auf Rädern. Mit einem solchen Tarif wird zudem gewährleistet, dass der Staat genauso mit knappen Mitteln wirtschaften muss wie wir Bürger auch.
Abkehr von der Energiewende
Man kann die Räder einer Industriegesellschaft nicht allein mit Wind und Sonnenstrom drehen. Dazu ist dieser Strom zu schwach, zu teuer und zu unstet. Deutschland kann sich den Ausstieg aus der Atomkraft nicht leisten, ohne Atomstrom aus dem Ausland zu kaufen. Was wir tun müssen, ist, uns zum einen für ein funktionierendes Emissionshandelssystem und zum anderen für sicherere Atomkraftwerke starkzumachen. Dazu gehören scharfe staatliche Kontrollen und der Zwang, umfangreiche Haftpflichtversicherungen in Form von sogenannten Cat-Bonds abzuschließen: gut verzinsliche Anleihen, die im Fall eines zuvor genau definierten Unglücks ihren Wert verlieren. Unsichere Kraftwerke werden dann hohe Zinskosten zu tragen haben, und zu deren Senkung werden sich die Betreiber um die Verbesserung der Sicherheitsstandards bemühen.
Moderne Familienpolitik
Kein entwickeltes Volk dieser Erde hat so wenige Kinder wie die Deutschen. Wenn wir uns nicht aufgeben und einen drohenden Verteilungskampf zwischen den Generationen noch abwenden wollen, müssen wir ein anderes Gesellschaftsmodell entwickeln, das der Leistung der Eltern, insbesondere der Mütter, die ihnen gebührende Anerkennung zollt. Dazu gehört es nicht nur, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Form einer früh verfügbaren flächendeckenden Kinderbetreuung zu garantieren.
Vor allem müssen die Familien dafür entschädigt werden, was ihnen der Staat durch die Sozialisierung der Schaffenskraft ihrer Kinder in Form von deren künftig horrenden Sozialversicherungsabgaben aufbürdet. Eine Kinder- oder Elternrente, die mit einem erweiterten Sparzwang für die Kinderlosen gekoppelt ist und insofern eine materielle Gleichstellung im Sinne der Leistungsfähigkeit im Arbeitsleben und in der Rente bewirkt, ist das Mindeste, was benötigt wird.
Den Zuwanderungsmagneten abschalten
Zur Vermeidung einer demografischen Katastrophe und zur Stärkung des Arbeitsmarkts braucht Deutschland mehr Zuwanderung aus dem Ausland. Was Deutschland freilich nicht benötigt, ist die Zuwanderung von weiteren Kostgängern des Sozialsystems. Die Lösung dieses Problems kann aber nicht darin liegen, die Freizügigkeit in der Euro-Zone für die Armen zu beschränken. Besser ist es, wenn jedes EU-Land seinen Beziehern von Sozialhilfe und Renten das Recht gibt, diese Leistungen an einem Ort ihrer Wahl zu konsumieren. Die konsequente Anwendung des Prinzips würde die Möglichkeit nehmen, in Sozialsysteme einzuwandern, zugleich aber den Grundgedanken der Freizügigkeit in Europa stärken.
Schulen endlich reformieren
Keine Investition ist so ertragreich wie jene in die Köpfe der Menschen. Diese Erkenntnis ist im Land der Dichter, Denker und Ingenieure lange Zeit vernachlässigt worden. Die internationalen Tests für die Vergleiche schulischer Leistungen zeigen, dass Deutschlands Schüler nur noch mittelmäßig sind. Um das zu ändern, bedarf es einer Bildungsoffensive, die die Begabungspotenziale hebt, indem die Trennung der Schüler in verschiedene Ausbildungswege nach dem erfolgreichen finnischen Vorbild auf ein deutlich späteres Lebensjahr verschoben und die Ganztagsschule eingeführt wird - mit Lehrkräften, die fachlich wie pädagogisch erstklassig sind. Ihre verbesserte Ausbildung muss uns auch etwas wert sein. Abgesehen davon sollten wir unser sehr erfolgreiches System der dualen Ausbildung stärken und verbessern, anstatt eine Erhöhung der Hochschulquoten anzustreben.
Verbesserung der Langfristigkeit von politischen Entscheidungen
Eine große strukturelle Schwäche heutiger Demokratien liegt darin, dass ihre Entscheidungsprozesse meist auf die kurze Frist ausgerichtet sind. Statt heute jemandem auf die Füße zu treten, lösen unsere Politiker die wirtschaftlichen Verteilungsprobleme der Gesellschaft oft zu Lasten von Menschen, die sich noch nicht wehren können, weil sie noch nicht abstimmen dürfen. Längere Regierungsperioden, eine verbindliche Berechnung der finanziellen Folgen aller Regierungsentscheidungen und das Kinderwahlrecht für Eltern könnten die Funktionsfähigkeit der Demokratie verbessern.
Den Euro-Raum reformieren
Entgegen den Beschwörungen vieler Politiker und Finanzmarktakteure kann Europa auch ohne den Euro existieren. Das heißt allerdings nicht, dass man den Euro abschaffen sollte. Was kaputt ist, kann man reparieren. Dazu muss so schnell wie möglich ein geordneter Ausstieg aus der Rettungsspirale zurück zum Maastrichter Vertrag gefunden werden.
Einige Länder wie Griechenland, Zypern, Italien, Portugal oder Spanien benötigen heute eine substanzielle Abwertung, damit sie wieder wettbewerbsfähig werden, aber die ist im Euro nicht zu haben. Temporäre Austritte aus der Euro-Zone, die einhergehen mit Schuldenschnitten zu Lasten der privaten Gläubiger sind unerlässliche Voraussetzungen für die Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit mancher südeuropäischer Staaten.
Über den Ausstieg kann dabei nur das jeweilige Land selbst entscheiden. Die Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit ist das Wichtigste überhaupt für die Wiederherstellung des sozialen Friedens in Europa, der durch die Euro-Krise nachhaltig gestört worden ist.
WIRTSCHAFTS- EXPERTE Hans-Werner Sinn, 65, ist Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung. Er lehrt Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Ludwig-Maximilians- Universität München. Ausführlich legt Sinn seine Thesen in dem Buch "Verspielt nicht eure Zukunft!" dar, das diese Woche im Redline-Verlag erscheint.