Das wäre der größte Wunsch des Präsidenten des Münchner ifo Institutes. Hans-Werner Sinn kann derzeit nicht so gut schlafen
Er ist, davon spricht er auch im Interview, gerade unterwegs in Amerika. Da kommt man auf neue Gedanken, sieht Europa und die Euro-Krise mit anderen Augen. Hans-Werner Sinn macht sich Sorgen um das Ansehen der Deutschen bei ihren Nachbarn. Ökonomen, das merkt man diesem per Mail geführten transatlantischen Gespräch an, sind eben auch nur Menschen.
Die WELT: Ökonomen denken systemisch, ja puristisch. Die Politik muss beraten und Kompromisse finden in der widersprüchlichen Realität. Können Ökonomen Politiker verstehen oder muss es da nicht per se zum Vorwurf kommen, der Politiker denke oberflächlich und nur an seine Wiederwahl?
Hans-Werner Sinn: Dass ein Politiker an die Wiederwahl denkt, ist nicht grundsätzlich falsch. Das Problem ist nur, dass die häufigen Wahlen in Deutschland kurzfristigen Populismus zu stark belohnen und die Politik zu taktischen Manövern veranlassen. Der Effekt wird durch die wöchentlichen Meinungsumfragen noch verstärkt. Längere Wahlperioden wären besser. Auch, Eltern für ihre Kinder ein Wahlrecht zu geben, damit die langfristigen Konsequenzen der Politik bei den Abstimmungen mehr Gewicht erhalten. Zugleich kann ich mir bei konkreten Einzelfragen direkte Volksabstimmungen vorstellen wie in der Schweiz. Die inhaltsleeren Personality Shows, die wir bei Wahlen veranstalten, sind kontraproduktiv.
Wir segeln weiter durch die Euro-Krise. Was ist der Euro anderes als eine ganz normale Währung? Und gehören Sie zu jenen, die glauben, man könne sich aus ihm verabschieden?
Natürlich kann Deutschland auch ohne den Euro existieren. Die Horrorszenarien, die für einen Austritt gemalt werden, sind allesamt übertrieben. Insbesondere stimmt es nicht, dass die Exportindustrie dann kaputt ginge. Ein bisschen Aufwertung täte Deutschland gut, weil der Vorteil der Verbilligung der Importe den Nachteil eines schlechteren Exportgeschäfts mehr als aufwiegen würde. Stärkere Aufwertungen könnte die Bundesbank jederzeit verhindern, indem sie ausländische Wertpapiere gegen eigene Währung erwirbt, ähnlich wie die Schweizer Notenbank es tat. Diese Wertpapiere träten dann an die Stelle ihrer ziemlich wertlosen Target-Forderungen im heutigen System. So gesehen gäbe es technisch gesehen allerlei Vorteile. Allerdings sollte Deutschland den Euro aus politischen Gründen nicht verlassen, weil der Euro ein zentrales europäisches Integrationsprojekt ist, und auch, um nicht die Auslandsforderungen unserer Banken und Versicherungen, nicht zuletzt die alten Target-Forderungen der Bundesbank zu entwerten. Wenn ein Land mit dem Euro nicht zurechtkommt, weil es nicht mehr wettbewerbsfähig ist, sollte es besser selbst austreten. Deutschland sollte aufhören, solche Länder künstlich mit immer mehr öffentlichen Krediten, die nie zurückgezahlt werden, im Euro zu halten.
Wie wird Europa in fünf Jahren aussehen? Liegen die begangenen Fehler wie Steine schwer auf allem?
Die Steine, die man auf uns wirft, werden immer größer werden, je länger wir die jetzige Politik fortsetzen. Es war ein Riesenfehler, den Maastrichter Vertrag zu brechen und Griechenland mit öffentlichen Krediten von mittlerweile 160 Prozent des BIP, die nie bedient werden, im Euro zu halten. Das hat unseren und den französischen Banken geholfen, auch so manchen Reichen in Griechenland, doch für die Bevölkerung hat es nur Arbeitslosigkeit und Siechtum bedeutet. Griechenland wäre inzwischen schon lange über den Berg, wäre es im Frühjahr 2010 in Konkurs gegangen und ausgetreten. Es wäre von seiner Schuldenlast weitgehend befreit worden und hätte mit einer abgewerteten Drachme seine Wettbewerbsfähigkeit wieder erreicht. Die Jugendarbeitslosigkeit wäre ganz bestimmt nicht 60 Prozent wie heute. Was wir in Griechenland zulassen, ist eine Katastrophe für die Menschen dort und man lastet uns Deutschen die Fehler dieser Politik an, obwohl wir das meiste Geld geben. Wir werden durch eine solche Politik ärmer und ziehen zugleich immer mehr Hakenkreuzfahnen auf uns. Sollten sich die Schwierigkeiten der großen Länder vergrößern, könnten wir den bei Griechenland eingeschlagenen Kurs mangels Kasse ohnehin nicht durchhalten.
Deutschland erscheint das ungeliebte Land in Europa: zu groß, um sich in Deckung zu halten, aber auch zu schwach zur Führung. Eine Rolle, die Historiker schon immer der Mittellage zuschrieben. Hat ein Ökonom hierfür ein Sensorium?
Ja natürlich, diese Frage treibt mich permanent um. Ich bin gerade in Washington. Die europäische Krise ist hier allgegenwärtig. Deutschland sollte seiner Verantwortung gerecht werden und nach wirklich tragfähigen Lösungen für die Euro-Zone suchen, die nur in einer flexibleren Gestaltung des Währungssystems zwischen einem Festkurssystem und einer nationalen Währung wie dem Dollar bestehen können. Mir schwebt eine offene Währungsunion vor, aus der man temporär austreten kann, wenn man nicht zurechtkommt und dabei auf Hilfen der Staatengemeinschaft für den Übergang rechnen kann. Ich bin für einen Marshall-Plan für Griechenland nach dem Austritt, den wir gegebenenfalls auch im Alleingang stemmen. Das ist besser und billiger, als alles Geld durch kollektive Rettungsinstitutionen wie die EZB verteilen zu lassen, bei denen wir kaum etwas zu sagen haben, am meisten zahlen und dann dennoch den Schwarzen Peter bekommen.
Wenn Sie Deutschland 1989 und heute vergleichen: Was hat sich Ihrer Meinung nach am meisten geändert?
Die finanzielle Solidität unseres Landes ist verloren gegangen. Die versteckten Staatsschulden und Risiken sind durch die deutsche Vereinigung und eine fehlerhafte Euro-Politik gewaltig gewachsen, und zugleich nähert sich der Zeitpunkt, zu dem unsere Babyboomer, die jetzt Ende Vierzig sind, in die Rente wollen, ohne dabei auf die Unterstützung der nachfolgenden Generation rechnen zu können, die ja nur dünn besetzt ist. Ich erkenne an, dass die Politik mit der Schuldengrenze im Grundgesetz dagegen anzuhalten versucht hat, auch dass die Situation in anderen Ländern noch viel schlimmer ist. Doch sehe ich viel zu viel kreative Buchhaltung beim deutschen Staat und in der europäischen Währungsunion. Dadurch werden die Lasten, die unsere Kinder zu tragen haben, verschleiert.
Wir bewegen uns auf die Vollbeschäftigung zu, werden in Europa ob unserer Flexibilität und unseres Arbeitsmarktes bewundert und beneidet. Aber hierzulande reduziert sich politischer Elan in erster Linie auf Krisengeraune und Steuererhöhung, um, wie die Grünen offen sagen, den "Umbau" der Gesellschaft voranzutreiben. Hat diese Geisteshaltung in den letzten Jahren zugenommen?
Deutschland ist um drei Millionen Stellen von der Vollbeschäftigung entfernt. Die Arbeitslosigkeit ist heute mehr als sechs Mal so groß als zur Zeit, da ich studierte. Insofern erlauben Sie mir bitte, Zweifel an Ihrer Aussage zu äußern. Dennoch ist es richtig, dass der Arbeitsmarkt wesentlich besser läuft als fast überall sonst in Europa. Wir haben Jobs, verlieren durch die Euro-Politik aber immer mehr von unserem Vermögen, ohne es zu merken. Die Euro-Krise ist kein Krisengeraune, wie Sie sagen, sondern eine bittere Lebenserfahrung in den südeuropäischen Ländern, die auf uns zurückschlagen wird. Wir müssen nicht die deutsche Gesellschaft umbauen, sondern das europäische Haus.
Fehlt der Politik mittlerweile der ökonomische Sachverstand? Sie wird dominiert von Juristen.
Ich möchte niemandem zu nahe treten. Nur, wenn ich sehe, welcher geballte ökonomische Sachverstand in den USA in der Politik vertreten ist, dann erkenne ich schon gewaltige Defizite. Dies wird Deutschland teuer bezahlen müssen.
Sie sind ein großer Kritiker der Energiewende. Welcher Fehler ist der gravierendste in Ihren Augen und wie wird das Ganze weitergehen?
Die deutsche Vorstellung, wir würden den Weltverbrauch an fossilen Brennstoffen verringern und so den Klimawandel verlangsamen, indem wir auf Ersatztechnologien umsteigen, ist naiv. Die Mengen, die wir nicht verbrauchen, werden dann halt zu niedrigeren Preisen anderswohin geliefert und dort verbraucht. Wir kasteien uns, indem wir den Strompreis gegenüber Frankreich verdoppeln und gegenüber den USA vervierfachen, und doch hilft es dem Klima nicht. Die Windmühlen in Norddeutschland sind Sakralbauten zur Befriedigung grüner Glaubensbekenntnisse, doch nicht das Ergebnis einer rationalen Energiepolitik für die Bevölkerung und die Wirtschaft. Die Deindustrialisierung, die wir gerade im Bereich der Energiewirtschaft betreiben, indem wir funktionierende Kraftwerke verschrotten, gehört zu den Sünden, die wir gegenüber unseren Nachkommen begehen.
Wir zehren noch immer von den enormen positiven Folgen, auch den psychologischen, von Hartz IV, obwohl die Politik, egal welcher Couleur, das meiste davon schlechtredet. Könnten Sie sich einen neuen Wurf vorstellen, der beispielsweise die Bildungspolitik innoviert?
Deutschland hinkt in den Pisa-Tests noch immer hinterher, weil wir Begabungsreserven nicht heben. Unser Schulsystem ist zwischen den Wegen nicht durchlässig genug und trennt die Schüler viel zu früh in verschiedene Zweige. Die Schüler verbringen zudem zu wenig Zeit in der Schule, und die Lehrer sind zu schlecht bezahlt. Wir tun zu wenig, um die vielen Ausländerkinder schon im Kleinkindalter in die deutsche Gesellschaft zu integrieren und lassen zu, dass sich Parallelgesellschaften entwickeln. Es bedarf einer Bildungsoffensive, um die Begabungsreserven in der Bevölkerung insbesondere auch bei den Kindern der Migranten zu heben.
Wo besteht Ihrer Meinung nach größter Reformbedarf?
Deutschland hat, gemessen an seiner Bevölkerungsgröße, die geringste Zahl von Neugeborenen unter allen entwickelten Ländern der Erde. Das gefährdet die finanzielle Stabilität unser Sozialversicherungssysteme und die Stabilität der Gesellschaft an sich. Es bedarf einer groß angelegten Änderung der Anreizsysteme, die Eltern wieder die Anerkennung zukommen lässt, die sie verdienen und benötigen, um ihr Leben mit Kindern als Bereicherung zu empfinden. Dazu gehört eine Rückbesinnung auf traditionelle Werte, aber auch ein Ende der finanziellen Diskriminierung der Familien in unserem Renten- und Steuersystem. Es gilt, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu stärken und das Rentensystem so umzugestalten, dass die Sozialisierung der Beiträge der Kinder zulasten der Eltern, die wir heute in riesigem Umfang betreiben, zumindest abgemildert wird.
Wieso sehen Sie Familien in Deutschland als Diskriminierte?
Die Familien allein sorgen dafür, dass später überhaupt Renten gezahlt werden können, denn wir haben ein Umlageverfahren. Die Beiträge, die man im Arbeitsleben in die Rentenversicherung einzahlt, fließen ja nicht in einen Topf, sondern dienen der Ernährung der Generation der eigenen Eltern. Diese Beiträge stehen nicht mehr zur Verfügung, wenn man selbst in die Rente will. Vielmehr muss man dann von der nächsten Generation, also den heutigen Kindern ernährt werden. Damit dieses System funktioniert, müssen die Menschen in ihren gesunden Jahren zwei Lasten tragen. Sie müssen Rentenbeiträge zahlen und zusätzlich müssen sie Kinder großziehen. Dieser zweiten Last haben sich zu viele Menschen entzogen. Leider ist das deutsche System heute rechtlich so gestrickt, dass es den Versicherten das Gefühl gibt, die Beiträge zur Rentenversicherung würden reichen, einen Anspruch auf Renten zu sichern. Dieser Anspruch hängt aber in der Luft, wenn es keine Kinder gibt. Weil das so ist, sollte man die Rentenformel umbauen, um Eltern sehr viel mehr Anerkennung für ihre Erziehungsleistung zu zollen, als es heute der Fall ist.
Frauen drängen auf den Arbeitsmarkt und wollen sich nicht länger mit Teilzeit abspeisen lassen. Wie wird sich das Verhältnis zwischen den Geschlechtern ändern? Müssen nicht auch die Männer ihr Zeitmanagement ändern?
Ja natürlich, die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern ändert sich. Aber das sollte man nicht durch die Politik zu steuern versuchen, sondern den Menschen selbst überlassen. Die Gesellschaft sollte offen sein für alternative Lebenswege. Politische Verhaltensdiktate, die darauf hinauslaufen, den neuen Menschen nach den Vorbildern irgendeiner Elite zu schaffen, halte ich für äußerst bedenklich.
Der Bundespräsident muss ausdrücklich betonen, er habe nichts gegen Reiche. Ist Deutschland, wie jüngst der Historiker Klaus Schroeder meinte, immer noch vom Sozialneid geprägt?
Der Neid ist eine allgegenwärtige Triebkraft der Menschen. Deutsche sind gegenüber Menschen, die sich aus kleinen Verhältnissen hochgearbeitet haben, skeptisch, doch sind sie voller Bewunderung und Anerkennung gegenüber denen, die ihr Vermögen geerbt haben. Am meisten werden Adelige bewundert, die ihr Vermögen und ihren Status von Generation zu Generation weitergeben. In Amerika ist das ganz anders. Dort dominiert noch immer die Achtung vor dem Tellerwäscher, der sich durch eigene Anstrengung zum Millionär hochgearbeitet hat. Das bleibt wohl dauerhaft der Unterschied zwischen den Gesellschaften.
Steuervergehen werden zu Recht als kriminell betrachtet und enorm moralisch aufgeladen. Wer aber kontrolliert, wie der Staat mit den Steuergeldern seiner Bürger umgeht? Darüber wird wenig geredet.
Steuerehrlichkeit ist eine Grundvoraussetzung für ein funktionierendes Gemeinwesen. Es ist richtig, das der Staat hier hart vorgeht. Ein Postchef, der erwischt wurde, hat aber das Recht, nicht schlechter behandelt zu werden als ein populärer Fußballstar. Was den Umgang der Politiker mit dem sauer verdienten Steuergeld der Bürger betrifft, teile ich Ihre Skepsis. Bei den Summen, für die die deutsche Regierung im Zuge der Euro-Rettungspolitik Haftung übernommen hat, kann einem schlecht werden. Politiker gehen viel zu leichtfertig mit dem Geld ihrer Bürger um. Müssten sie die kostenträchtigen Entscheidungen im Einzelnen dem Volk zur Abstimmung vorlegen, ähnlich wie es in der Schweiz der Fall ist, kämen mit Sicherheit ganz andere Entscheidungen zustande.
Der Ökonom Sinn ist auch ein ganz normaler Bürger. Was wäre sein größter Wunsch?
Eine Fee würde kommen, das ganze Euro-Desaster in Luft auflösen und die Hakenkreuzfahnen einholen, die derzeit in den Köpfen so vieler Europäer gegen uns geschwungen werden. Dann könnte ich wieder ruhiger schlafen.
Das Gespräch führte Andrea Seibel.
Online veröffentlicht als "Deutschland kann auch ohne den Euro existieren", Welt online, 6. Mai 2013.