Lehrstunde für Fritzchen Müller

Presseecho, Rezension, Handelsblatt, 10.12.2003, 38

Hans-Werner Sinn dokumentiert seinen Frust über ökonomische Ignoranz, hofft aber weiter

Es muss aufreibend sein, wenn man 20 Jahre lang rechnet und seine Forschungsergebnisse unermüdlich veröffentlicht. Wenn man wirbt und predigt, was vernünftigerweise zu tun ist, wenn man Empfehlungen gibt und Trends mit Modell-Kalkulationen untermauert. Und gleichzeitig gerne als "neoliberaler" Ideologe gegeißelt wird.

So atmet das Buch von Hans-Werner Sinn viel von der Frustration über ökonomische Ignoranz unter Politikern, Lobbyisten und Intellektuellen: "Ihr Blick reicht von Goethe bis Habermas", giftet Sinn im Vorwort, "doch über die harten Gesetze der Ökonomie streift er hinweg, außerstande, selbst die banalsten wirtschaftlichen Zusammenhänge zur Kenntnis zu nehmen". Immer noch träumten die Deutschen vor sich hin, sagt Sinn, nach dem Motto: "Die Rente kommt vom Staat, und der Strom kommt aus der Steckdose."

Dieser erklärt, mit welcher Schärfe der Chef des renommierten Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung aufschreibt, wie Deutschland seiner Meinung nach zu retten ist. Sinns Beweisführung, seine Modelle und Empfehlungen entsprechen inhaltlich dem Kanon der ökonomischen Forschung. Natürlich räumt er auch mit der unseligen Kaufkrafttheorie auf, der zufolge hohe Löhne angeblich Arbeitsplätze schaffen. Nur: Sinn tut es diesmal bitterböse und ganz und gar nicht professoral. Etwa mit dem Hinweis auf "Fritzchen Müller", dem man jetzt mal Grundsätzliches erklären müsse. Und mit Widmungen der Einzelkapitel wie: "Für Ursula Engelen-Kefer, die glaubt, den deutschen Arbeitern etwas Gutes zu tun."

Minutiös und bisweilen geradezu versessen auf akademische Belege gliedert Sinn Lebenswerk auf. Er erläutert, wie Deutschland durch übermächtige Gewerkschaften und einen ausufernden Sozialstaat von der Wachstumslokomotive zum kranken Mann Europas werden konnte. Auch für Laien plausibel erklärt er die Anspruchslohntheorie, wonach üppige Sozialhilfesätze Millionen von Jobs mit geringer Produktivität unrentabel machen. Sinn rechnet vor, dass Deutschland mit seiner effektiven Staatsquote von 57,2 Prozent eher einer "DDR light" ähnelt als einer Marktwirtschaft. Er geißelt die Verschuldung und den Verdi-Vorsitzenden Frank Bsirske.

Trotz aller Deftigkeit: Das Buch hat viel wissenschaftliche Substanz. Sinn müht sich nach Kräften um eine eingängige Sprache mit vielen Beispielen. Hier will einer endlich mit seinen Botschaften ankommen, bevor das Land womöglich endgültig den Anschluss verpasst.

Bis er zu seinem Reformkonzept, dem"6+1-Programm für den Neuanfang" kommt, schreibt Sinn auf 450 Seiten Politikern und Gewerkschaftlern die Tragweite der Probleme ins Stammbuch. Er erläutert die Anreizverzerrungen in unserer Vollkaskogesellschaft und Problem "Kartellgewerksc'haften".

Hans-Werner Sinn: Ist Deutschland noch zu retten?
Econ Verlag, München 2003, 499 S., 25 Euro.
 

Sinn fordert, die effektiven Lohnkosten zu senken, indem alle Arbeitnehmer wieder mindestens 42 Stunden pro Woche arbeiten. Er will den Flächentarif aufbrechen und den gesetzlichen Kündigungsschutz fallen lassen, der als Barriere zu Lasten Arbeitsloser wirkt. Er will die Sozialhilfe zu einem Zuschusssystem für Niedriglohnjobs umbauen, Frührenten nur noch mit solide kalkuliertem Rentenabschlag erlauben und ein Einfachsteuersystem durchsetzen.

Schließlich, ein Herzensthema Sinns: Kinder sollen ihren Eltern Punkte in der Umlagerente bringen, Kinderlose müssen dagegen zusätzlich sparen. Denn die umlagefinanzierte Rente fördert indirekt Kinderlosigkeit, sagt Sinn - sie schmälert das Risiko, im Alter zu verarmen.

Leider hat Sinn bei einer einzelnen Grafik zwei Zahlen vertauscht was Kritiker gleich veranlasste, hämisch über ihn herzufallen. Typisch deutsch. Dennoch: Die Stimmung für Sinnsche Rundumschläge ist günstig. Gerade hat er dafür einen Wirtschaftsbuchpreis bekommen, die Großkopferten der Industrie feiern das Werk als "Pflichtlektüre". Und Sinns Antwort auf die selbst gestellte Frage, ob Deutschland noch zu retten sei, lautet immerhin: Ja! Das ist doch auch was.