Der Mut, populär zu sein

Presseecho, Rezension, Süddeutsche Zeitung, 31.10.-02.11.2003, 26

Wirtschaftsbuch

Wenige deutschsprachige Ökonomen verstehen es, populär zu schreiben. Damit mag es zusammenhängen, dass es der wirtschaftswissenschaftliche Sachverstand in der Berliner Politik so schwer hat und dass ökonomische Debatten, etwa über Globalisierung und die Zukunft des Sozialstaats, in der Öffentlichkeit weitgehend unter Ausschluss der Schulökonomen stattfinden. Zwei namhafte Ausnahmen von der Regel gibt es: den früheren Präsidenten des Kieler Weltwirtschaftsinstituts, Horst Siebert, und den heutigen Präsidenten des Ifo-Instituts in München, Hans-Werner Sinn. Als populäre Buchautoren hatten Sinn und seine Frau Gerlinde erstmals 1992 mit einem Buch ("Kaltstart") über die deutsche Einigung von sich reden gemacht. Jetzt hat Sinn eine knapp 500 Seiten dicke Untersuchung zur deutschen Wirtschaftsdauerkrise vorgelegt.

Schon der Titel ("Ist Deutschland noch zu retten?") zeigt, dass Sinn keine falsche Scheu vor steilen Aussagen und lauten Tönen hat. Als er sein Buch in Berlin vorstellte, wählte er sich ausgerechnet Oskar Lafontaine als Laudator. Auch manche These im Buch selbst ist gewagt. Kann man etwa wirklich behaupten, die Deutschen scheuten sich aus Angst vor dem Staat Vermögen zu bilden - in einem Land, das mit 10,6 Prozent eine im internationalen Vergleich sehr hohe Sparquote hat? Kann man das Problem der Zinsbesteuerung wirklich korrekt erfassen, wenn man Geldvermögen lediglich als aufgeschobenen Konsum auffasst? Auch an einigen anderen Stellen ist Sinn in seinem Mut, populär zu sein, sehr weit gegangen.

Dies alles ändert jedoch nichts an dem Befund, dass Sinn eines der wichtigsten Wirtschaftsbücher der vergangenen Jahre geschrieben hat. Wer immer fundiertes Material zur deutschen Wirtschaftsmisere sucht, wer sich mit originellen Lösungsvorschlägen auseinander setzen möchte - hier kann er sich bedienen. Etwa das vierte Kapitel, in dem der Ökonom sehr eindrücklich schildert, wie der Sozialstaat im Allgemeinen und die Sozialhilfe im Besonderen den Arbeitsmarkt abschnüren und die Entstehung neuer Arbeitsplätze behindern. Es mindert die Bedeutung dieser Analyse nicht, wenn man am Lösungsvorschlag des Ifo-Instituts, der "aktivierenden Sozialhilfe" hinsichtlich der Praktikabilität erhebliche Zweifel hat. Ähnlich Sinns Analyse über die Fehler bei der wirtschaftlichen Einigung Deutschlands: Die "Stellvertreter-Lohnverhandlungen" der westlichen Tarifpartner für Ostdeutschland nach 1990, so schreibt Sinn, "waren der hauptsächliche Grund für das Desaster in den neuen Ländern." Und er unterstellt, dass dieses Desaster mehr oder minder bewusst herbeigeführt wurde: Die Westdeutschen wollten ganz einfach das Entstehen einer Billig-Konkurrenz im Osten verhindern. Ähnlich dezidiert äußert sich Sinn über die Macht der Gewerkschaften und den Steuerstaat Deutschland.

Die Lage der deutschen Wirtschaft ist ernst und wurde viele zu lange beschönigt. Daher ist es ein ermutigendes Zeichen, wenn Ökonomen die Welt ihrer mathematischen Modelle verlassen und sich, durchaus laut, in die Tagespolitik einmischen.

Nikolaus Piper