Neue Wege zur Stabilisierung der Währungsunion

Bernd W. Müller-Hedrich, Presseecho online, www.rezensionen.ch, 11.06.2013

Die Target-Falle

"Man kann in eine Falle tappen, die einem jemand gestellt hat. Man kann sich auch selbst eine Falle stellen. Welche dieser beiden Möglichkeiten auf die Target-Kredite zutrifft, kann man angesichts der Verve, mit der Helmut Kohl das Europaprojekt verfolgt hat, und der Cleverness oder Weitsicht von Jacques Delors dahingestellt sein lassen. Tatsache ist aber, dass Deutschland heute in der Target-Falle steckt." (S. 263)

Mit dieser sybillinischen Aussage startet der Autor die zentrale Auseinandersetzung mit der Zeitbombe, welche im Zahlungssystem der EZB aufgrund der in den letzten Jahren dramatisch angestiegenen unausgeglichenen Target-Salden tickt. Der renommierte Ökonom und Chef des Münchner ifo Instituts hat als Erster erkannt, welch ökonomischer Sprengstoff in den Salden der Peripheriestaaten der Eurozone lauert, welche durch die Leistungsbilanzdefizite und dem Ausbleiben der Kapitalzuflüsse seit dem Ausbrechen der Finanzkrise verursacht wurden. Jene Euro-Länder haben über ihre Verhältnisse gelebt und bedienen sich mit Billigung der EZB der (elektronischen) Notenpresse, um die Finanzprobleme ihrer Wirtschaft zu lösen. Diese Target-Kredite stellen die offiziellen Rettungskredite weit in den Schatten und haben sich zwischenzeitlich auf etliche hundert Milliarden Euro summiert. Für den Fall, dass das Euro-System zerbricht, sind die riesigen Target-Forderungen der deutschen Bundesbank (fast) vollständig abzuschreiben. Deutschland, so Sinns implizite Schlussfolgerung, kann deshalb nicht mehr aus der Euro-Zone austreten. Die dadurch herbei geführten hohen Verluste würde keine Regierung politisch überleben. Daher könne Deutschland erpresst werden, immer neuen Euro-Rettungspaketen zuzustimmen, was Sinn treffend als Target-Falle charakterisiert.

Das vorliegende Buch ist jedoch nicht nur auf die Target-Thematik beschränkt. Es geht dem Verfasser vielmehr auch darum, die gravierenden Fehler bzw. Mängel und Fehleinschätzungen vom Beginn der Währungsunion bis hin zur jüngsten Euro-Rettungspolitik kritisch aufzuzeigen und deutlich zu machen, wie die Politik sich immer tiefer in steigende Haftungsrisiken zulasten des Landes und seiner Bürger verstrickt:

- Deutschland hat bei den Verhandlungen zum Maastrichter Vertrag im Austausch für die D-Mark nur wenig erreichen können und Asymmetrien bei der Machtverteilung in der EZB hingenommen: während sich der Kapitaleinschuss und damit die Haftung der Euroländer nach der Größe des jeweiligen Landes richtet, hat man es versäumt, für die EZB adäquate Stimmrechte durchzusetzen. So ist, im Gegensatz beispielsweise zum IWF, das Stimmgewicht der Deutschen Bundesbank nicht größer als beispielsweise das der Zentralbank von Malta.

- Kohl musste sich mit der bloßen Einführung des Euro zufrieden geben, ohne dass es zu wesentlichen politischen Zugeständnissen der anderen Euroländer kam, die als Schritt in die Richtung einer stärkeren politischen Integration hätte verstanden werden können.

- Während Frankreich und Deutschland die Entscheidung für den Euro als einen zentralen Schritt zur Aussöhnung und als Kompensation für die Wiedervereinigung werteten, erhofften sich die südeuropäischen Länder vom Euro eine Senkung der Zinslasten für die Staatsschulden und einen Anschluss an den Wohlstand des Nordens.

- Die im Maastrichter-Vertrag von der Bundesbank und dem damaligen Finanzminister Waigel für einen Euro-Beitritt durchgesetzte 60%-Grenze für die Schuldenquote wurde von findigen Politikern Europas wieder ausgehebelt, so dass Belgien und den Südländern, trotz horrender Staatsverschuldung, der Beitritt zur Währungsunion nicht mehr verwehrt werden konnte.

- In den ersten Jahren des Euro war nicht Deutschland der Eurogewinner; Deutschlands Standortkrise wurde vielmehr durch den Euro verstärkt. Hingegen profitierten die peripheren Länder von der Beseitigung der Wechselkursunsicherheit und vom niedrigen Lohnniveau. Die deutschen Exportüberschüsse waren oftmals nur ein Reflex des Wachstums in diesen Ländern sowie die Folge eines starken Kapitalabflusses aus Deutschland.

- Erst durch eine reale Abwertung, d. h. insbesondere durch die Niedriglohnstrategie und die schröderschen Reformen, konnte in Deutschland eine Trendwende herbeigeführt werden. Hingegen verschlechterte sich die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Südländer durch steigende Löhne und Preise, d. h. durch eine reale Aufwertung.

- Alle Länder der Eurozone wurden im Verlauf der Finanzkrise wegen der Rettungsaktionen und der wegbrechenden Steuereinnahmen in die Staatsverschuldung getrieben. Betroffen waren jedoch insbesondere diejenigen Staaten, welche zuvor schon zu hohe Staatsdefizite oder Auslandsschulden hatten. Die in den Südländern durch die Leistungsbilanzdefizite benötigten Kredite wurden ab dem Sommer 2007 von den Kapitalmärkten zunehmend verteuert bzw. verweigert.

- Der weiße Ritter, der die Krisenländer zunächst einmal gerettet hat, war die EZB bzw. die nationalen Notenbanken, welche unter Protest der beiden deutschen Vertreter im EZB-Rat, Axel Weber und Jürgen Stark, in großem Umfang Staatspapiere der bedrängten Länder gekauft und vor allem den Geschäftsbanken dieser Länder großzügig Refinanzierungskredite gegeben haben. Diese Intervention wurde durch einen sukzessiven Abbau der bislang üblichen Sicherheitsstandards, bis hin zum Verzicht auf eine solche Besicherung und Umwandlung in sog. Notliquiditätshilfen (ELA-Kredite), unterstützt.

- Mit der Verabschiedung des EFSF-Fonds und der Schaffung des ESM wurde das Beistandsverbot des EU-Vertrages (No Bail-Out) definitiv gebrochen und damit ein schwerer Bruch des Maastricht-Vertrags vollzogen.

Sinn macht wiederholt deutlich, dass die Rettungsschirmpolitik der Euro-Staaten, die Krisenbekämpfung der EZB und der eingeschlagene Weg in die Haftungsgemeinschaft, angesichts des Auseinanderdriftens der Wettbewerbsfähigkeit der Länder, keine befriedigende Problemlösung erreichen werden, sondern notwendige volkswirtschaftliche Anpassungen hinauszögern. Dadurch wird die wachsende Kluft zwischen den Gläubigern und Schuldnern in der Euro-Zone eher verstärkt und die europäische Integration mehr gefährdet, als durch einen (vorübergehenden) Euro-Ausstieg eines oder mehrerer Krisenländer.

Das Buch beschränkt sich nicht auf eine Kritik der falschen Pfade der Euro-Rettung, sondern befasst sich auch mit Ansätzen für neue Wege zu einer nachhaltigen Stabilisierung der europäischen Währungsunion. Sinn bekennt sich ausdrücklich zu einer Vertiefung der europäischen Integration. Er plädiert deshalb nicht für eine Abschaffung der Saldenmechanik, jedoch für deren Begrenzung und für die Hinterlegung erstklassiger Sicherheiten wie z. B. staatliche Pfandbriefe, die mit Gold oder Immobilien besichert sind und eine marktübliche Verzinsung aufweisen. "Die unbegrenzte Verfügbarkeit der Target-Kredite ist der zentrale Konstruktionsfehler des Eurosystems und das Charakteristikum, das dieses System vom amerikanischen Währungssystem grundlegend unterscheidet." (S. 369) Sinn zieht hierzu eine interessante Parallele zum US-Zentralbankensystem, in dem die District Feds ihre Schulden im April eines jeden Jahres ausgleichen, indem echte verzinsliche marktfähige Wertpapiere abgetreten werden.

Des Weiteren verlangt er Neuverhandlungen des EU-Vertrags mit dem Ziel, neue Mehrheitsverhältnisse im EZB-Rat zu schaffen, stellt den Vorschlag der EEAG (European Economic Advisory Group) für eine geordnete Staatsinsolvenz vor und spricht sich für eine offene Währungsunion aus, die ein zeitweiliges Austreten und Abwerten seitens der Krisenländer ermöglicht. Abschließend geht der Autor der Frage nach, ob es angesichts der Unterschiede zwischen Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika sinnvoll sei, die Vereinigten Staaten von Europa überhaupt anzustreben. "Wer die Eurozone zu einer Transfer- und Schuldenunion entwickeln will, die sogar Staatskonkurse verhindern kann, muss aber wissen, dass er dafür mehr Zentralgewalt braucht, als sie in den USA verfügbar ist." (S. 390)

Wer immer sich über die Ursachen und Folgen der Euro-Krise informieren will, kommt an dieser fundierten und dennoch auch für Laien weitgehend verständlich geschriebenen Analyse des scharfsinnigen Münchner Hochschullehrers nicht vorbei. Hans-Werner Sinn und sein Buch sind in der Tat ein "echter Glücksfall für Deutschland" (Charles B. Blankhart). Dieses hervorragende Werk verbindet eine ganzheitliche Sicht für die Probleme und Lösungsansätze des Euro-Systems mit einer elementaren Botschaft an die Politik. Es sollte zur Pflichtlektüre für alle Einfluss- und Entscheidungsträger gehören, die sich mit den Euro-Rettungsmaßnahmen zu befassen haben. Darüber hinaus ist zu hoffen, dass sich möglichst viele Bürger - seien es Unternehmer, Manager oder Arbeitnehmer, Steuerzahler oder Rentner und nicht zuletzt die jüngere Generation - mit diesem Buch und dessen Thematik intensiv auseinandersetzen.