Das Euro-System hat mehr Tücken als nur die sichtbare Staatsverschuldung. Im Zahlungssystem der EZB lauert mit den unausgeglichenen Target-Salden eine Zeitbombe. Im Gespräch mit Alfred Schier erläutert Hans-Werner Sinn die Risiken
ALFRED SCHIER: Das Jahr 2012 war von der Eurokrise überschattet. Ziehen wir Bilanz. Die Börsenkurse steigen, die Regierungen verbreiten Optimismus. Ist der Euro über den Berg?
HANS-WERNER SINN: Die Finanzkrise hat sich jetzt beruhigt, und zwar deswegen, weil die Europäische Zentralbank den Gläubigern der südlichen Staaten gesagt hat, dass im Zweifel die Steuerzahler der noch gesunden Länder für die Rückzahlung aufkommen, sie sollen sich mal keine Sorgen machen.
Das heißt, wir sind auf dem richtigen Kurs oder der Kurs ist gerade der falsche?
Das hängt ganz davon ab, ob ich ein Finanzanleger bin oder ein Steuerzahler oder ein Rentner. Im Grunde geht es in dieser Krise um einen Verteilungsstreit zwischen drei Gruppen: Es gibt die Länder Südeuropas, die sich stark verschuldet haben – privat und öffentlich. Es gibt ihre Gläubiger, das sind die Finanzanleger aus aller Welt, aber natürlich auch unsere deutschen Banken und sehr stark die französischen Banken. Und es sind die Steuerzahler und Rentner der noch gesunden Länder, die man jetzt zum Zahlen ins Boot holt. Gläubiger und Schuldner haben nämlich ein Problem miteinander. Der Schuldner kann nicht zurückzahlen, und die bisherigen Gläubiger suchen jetzt andere, die anstelle der Schuldner zurückzahlen. Und das sind letztlich wir, das sind die Steuerzahler Deutschlands.
Also wir sind die Verlierer?
Das würde ich sagen: Wir sind die Verlierer. Wir dürfen freikaufen und wir dürfen sicherstellen, dass die Anleger sich noch aus dem Staube machen können. Deswegen heißt es ja immer, man muss Zeit gewinnen bei der Bewältigung dieser Krise. Jedes Jahr, in dem man das noch so weiter macht wie bislang, ist ein weiteres Jahr, in dem die Gläubiger, die Finanzanleger sich ihrer Papiere entledigen können, indem sie sie direkt an die Europäische Zentralbank, die EZB, oder an den Rettungsschirm verkaufen oder bei Fälligkeit durch Mittel bedient werden, die von diesen Institutionen zur Verfügung gestellt werden. Aber hinter diesen Institutionen stehen Sie und ich.
Die Rettungsmaßnahmen zugunsten Griechenlands nützen nicht Griechenland, sondern nur Finanzanlegern?
Vornehmlich. Es gibt ja riesige Refinanzierungsnotwendigkeiten. Das heißt, die Papiere der Griechen werden fällig, müssen bedient werden. Die Griechen bedienen sie nicht, sondern haben sie bislang immer mit neuen Schulden bedient. Die Schulden wurden aufgenommen auf den Finanzmärkten. Seit 2010 sind die Finanzmärkte aber nicht mehr bereit, das zu tun. Also müssen öffentliche Rettungskredite her. Das waren anfangs Kredite aus der Druckerpresse: Das EZB-System hat ihnen quasi einen Kredit gegeben, indirekt die Bundesbank. Und es sind inzwischen eben andere öffentliche Rettungskredite.
Schauen wir uns die Situation in Griechenland genauer an. Griechenland muss auf jeden Fall im Euro bleiben, sagt Angela Merkel, sagt im Prinzip die ganze EU. Sie sagen, das ist falsch. Warum?
Weil Griechenland nicht wettbewerbsfähig ist. Mit dem Euro kommen sie nie auf einen grünen Zweig. Griechenland ist 64 Prozent teurer als die Türkei. Das ist ein vergleichbares Land: gleiche Tempel, gleiches Essen, gleiches Meer. Für die Touristen ist es egal, wohin sie fahren. Da kann man nicht 64 Prozent teurer sein. Griechenland muss also enorm die Preise senken. Das ist aber kaum zu machen, wenn man Griechenland durch Sparprogramme drückt, wie das im Moment geschieht, so dass eine Massenarbeitslosigkeit entsteht. Dann fallen zwar die Löhne und es fallen auch die Preise ein bisschen, aber das ist natürlich bei Weitem nicht genug in Hinblick auf das, was notwendig wäre. Da liegt zwischen dem, was man einer Bevölkerung zumuten kann an Sparmaßnahmen, und dem, was objektiv nötig wäre, um das Land wettbewerbsfähig zu machen, um wieder Arbeitsplätze für die jungen Leute entstehen zu lassen, eine Riesenkluft, die man nicht überbrücken kann. Und insofern denke ich nicht, dass es eine Lösung in der Eurozone gibt.
Nun empfehlen Sie den Austritt Griechenlands. Aber die Gegner dieser Lösung sagen: Dann gibt’s Bürgerkrieg, Hunger, Unruhen.
Das halte ich für absoluten Unsinn. Genau das Gegenteil ist der Fall. Die Griechen sind im Euro in der Krise. Sie haben eine Jugendarbeitslosigkeit von über 50 Prozent. Die Gesamtarbeitslosigkeit bewegt sich Richtung 30 Prozent. Griechenland schrumpft vor sich hin. Das ist ja die reinste Katastrophe im Euro. Wie weit will man das denn noch treiben mit den Griechen? Was will man der Bevölkerung eigentlich noch alles zumuten für die Idee, den Euro mit allen Ländern so wie bisher aufrechtzuerhalten? Diese Idee, das möchte ich betonen, dient nicht dazu, ein stabiles Europa zu schaffen, sondern sie dient vor allem dazu, den Gläubigern noch den Weg aus den griechischen Anlagen heraus zu ermöglichen. Das ist der Sinn und Zweck der ganzen Sache. Die Griechen sind im Grunde in Geiselhaft genommen worden von den Finanzmärkten. Das klingt jetzt ziemlich radikal, aber ich sehe das deutlich so. Die Finanzmärkte aus der ganzen Welt, die ihr Geld in Südeuropa investiert haben, haben natürlich riesige Angst davor, dass die Abschreibungsverluste auf die Forderungen sie selber treffen. Und sie sagen deshalb: Jeder muss drin bleiben, und die Rettungsaktionen müssen weitergehen, damit wir uns noch aus dem Staub machen können. Das ist der Kern des Geschehens.
Wenn das so ist, wie Sie sagen, warum folgen denn dann Angela Merkel und die EU trotzdem der Maxime "Griechenland muss unbedingt im Euro bleiben"?
Ja, das frage ich mich auch. Warum die EU das tut? Nun gut, die EU wird natürlich maßgeblich von den südlichen Ländern beeinflusst. Die wollen gerne, dass diese Rettungsgelder kommen. Ein bisschen vom dem Geld, das fließt, können sie sicher für ihre eigenen Zwecke abzweigen, den Rest nehmen sie, um ihre alten Schulden zu tilgen. Dass Frau Merkel das will … Nun gut, sie will es ja nicht wirklich. Sie wird sehr stark bedrängt, und der Druck kommt von allen Seiten, insbesondere von Frankreich. Frankreich ist der Hauptgläubiger der südlichen Länder. Ein vereinfachtes Modell dessen, was in der Eurozone passiert, ist doch, dass wir als Deutsche sehr viel gespart haben. Wir haben Kredite über unsere Banken nach Frankreich gegeben. Die Franzosen haben diesen Kredit in Südeuropa verteilt. Das hat zu einer inflationären Wirtschaftsblase geführt. Die Preise stiegen in den Himmel, und die Länder haben ihre Wettbewerbsfähigkeit verloren. Sie haben dann zum Teil das Geld wieder zurückgeschickt nach Deutschland, um sich bei uns Autos zu kaufen. Aber jetzt in der Krise sind die französischen Banken extrem stark gefährdet. Und wir retten durch die Rettungsschirme nicht nur die südlichen Länder, sondern auch die französischen Banken. Natürlich auch unsere. Man soll das nicht zu stark vereinfachen. Auch unsere Lebensversicherer hängen drin. Aber es wäre für uns im Zweifel wesentlich billiger, unsere eigenen Banken direkt mit Steuergeldern zu retten und die Lebensversicherer, statt dass wir nun die Anleger der ganzen Welt nebenher auch noch retten. Dafür haben wir im Grunde nicht das Geld.
Wenn Sie sagen, der Austritt Griechenlands wäre die bessere Lösung: Wie könnte das denn konkret ablaufen?
Wenn die Griechen in die Drachme zurückkehren, dann müsste man natürlich an einem Wochenende erklären, dass alle Lohnkontrakte, alle Kreditkontrakte, alle Preisschilder umgeändert werden von Euro in Drachme. Dann wird das Eurozeichen durchgestrichen und durch ein Drachmezeichen ersetzt. Die Banknoten, die sie haben, müssten sie behalten. Die kann man nicht umstellen. Die kann man ihnen schenken. Aber das ist ein Klacks relativ zu dem, was Griechenland bislang schon bekommen hat und was es auch noch weiter kriegen wird. Die Euros würden sowieso weiter zirkulieren in Griechenland, genauso wie sie in der Türkei zirkulieren. Das Wesentliche ist aber, dass alle gesetzlichen Kontrakte heruntergesetzt wären. Und das bedeutet, dass Griechenland wieder wettbewerbsfähig wird. Das hat zwei Effekte: Zum einen kommen die Touristen wieder nach Griechenland. Aber viel stärker ist der andere Effekt: dass die Griechen ihre eigenen Waren kaufen. Die kaufen ja noch nicht mal ihre Agrarprodukte. Griechenland hat eine negative Leistungsbilanz mit dem Ausland in den Agrarprodukten. Das ist doch unvorstellbar. Die kaufen sich zum Beispiel Tomaten in Holland und sehr viele Produkte in Frankreich. Wenn die Produkte in Griechenland wieder billiger würden im Verhältnis zu den Importprodukten, dann würden sie die Importprodukte nicht kaufen, sondern ihre eigenen. Dann hätten die Bauern wieder zu tun, dann würde man die Oliven wieder vom Baum pflücken, dann würden Arbeitsplätze entstehen. Und so käme die Wirtschaft in Schwung. Es gibt einen weiteren Effekt, der darin besteht, dass wenn Griechenland abwertet, natürlich auch das Spekulationskapital zurückkommt. Die reichen Griechen haben sich aus dem Staube gemacht. Man redet davon, dass alleine 120 Milliarden Euro in der Schweiz geparkt sind. In London kaufen Griechen Immobilien, in Berlin höre ich von Anzeigen von griechischen Immobiliengesellschaften, die dort kaufen wollen. Dieses Kapital kommt eventuell zurück, wenn die Drachme abwertet, weil man ja zu Hause auf Schnäppchenjagd gehen möchte. Das führt dazu, dass investiert wird, dass Arbeitsplätze entstehen, dass der Bausektor den Aufschwung dieses Landes vorbereitet. Nur so geht es. Das ifo Institut hat im Frühjahr 2012 70 Abwertungen von Währungen mit historischen Daten untersucht, und wir kommen zu dem Schluss, dass in praktisch allen Fällen nach einem bis anderthalb Jahren der Aufschwung schon beginnt. Abwertung ist das Standardrezept, das Sie in jedem Lehrbuch der Volkswirtschaftslehre dargelegt finden. Natürlich haben wir das Problem: Im Euro ist es eine Sondersituation. Man kommt da nicht so ohne weiteres raus. Das ist mir schon klar. Ich will auch gar nicht klein reden, dass das politische Weiterungen hat, dass Portugal eventuell in einer ähnlichen Situation wäre. Aber Portugal ist auch ökonomisch in einer ähnlichen Situation: Die Portugiesen sind ebenfalls viel zu teuer. Es gibt eine Studie von Goldman Sachs – diese Institution ist unverdächtig in dem Punkt – die sagt: Portugal muss die Preise um 35 Prozent senken, bis es wettbewerbsfähig ist, und Griechenland um 30 Prozent. Ja, wie soll denn das bitte gehen? Bislang sehen wir nichts. In der Krise, die 2007 im Sommer mit dem Zusammenbruch des Interbankenmarktes begann, haben wir noch nicht gesehen, dass die Preise fallen. Im Gegenteil: In den ersten Jahre stiegen die Preise sogar noch in diesen Ländern. Und jetzt erst, seit etwa einem Jahr, sehen wir leichte Preissenkungstendenzen in Griechenland. Aber die Preise sind immer noch höher als zu Beginn der Krise. Und wie sollen sie herunterkommen um 30 Prozent? Das ist praktisch nicht machbar. Es gibt im Euro für Griechenland, für die griechische Bevölkerung, keine Lösung.
Die Europäische Union ist im Moment überhaupt nicht dieser Ansicht. Statt dessen setzt sie alle Macht der EZB und des ESM ein, um Griechenland und Portugal im Euro zu halten. Was ist die Folge dieser Politik?
Die Folge ist, dass man das jetzt ein paar Jahre macht, dass die privaten Anteilseigner rauskommen und immer mehr von den Staatsschulden dieser Länder in öffentlichen Besitz gelangen. Damit heben wir private Schuldner-Gläubiger-Verhältnisse auf die öffentliche Ebene. Man will sogar mit der Bankenunion die Bankenschulden durch den Luxemburger Rettungsfonds ESM absichern. Dadurch macht man aus Staaten Gläubiger und Schuldner. Das ist keine Friedenspolitik. Das Gegenteil ist der Fall. Zwischen Gläubigern und Schuldnern gibt es immer Spannungen. Das kennt man auch aus seinem privaten Bereich. Diese Spannungen werden normalerweise durch das Rechtssystem, das Zivilrecht gelöst. Wir haben aber, wenn sich Staaten als Gläubiger und Schuldner begegnen, keine Rechtsinstanz, die den Streit zwischen den Staaten lösen könnte, sondern der wird offen ausgetragen. Ich denke an die vielen Hakenkreuzfahnen, die in Europa gegen Deutschland geschwungen werden.
Jetzt wird gesagt, Deutschland solle diese Transferunion akzeptieren, denn Deutschland sei der Hauptprofiteur des Euro.
Das stimmt leider auch überhaupt nicht. Deutschland ist unter dem Euro im Gegenteil in eine Stagnationsphase gekommen. Der Euro ist ja schon 1995 angekündigt worden, fest und verbindlich mit dem Zeitpunkt, und zwar auf dem Gipfeltreffen von Madrid. Und von da ab trat Folgendes ein: Das Kapital traute sich plötzlich in die südlichen Länder, weil die Wechselkurs-unsicherheit verschwunden war, und sehr, sehr viel Kapital floss aus Deutschland heraus. Es sind in den Folgejahren unglaubliche zwei Drittel der deutschen Ersparnisse aus Deutschland herausgeflossen in die weite Welt. Nicht alles nach Südeuropa, sondern auch nach Osteuropa, in strukturierte Wertpapiere aus Amerika, die letztlich Mogelpackungen waren, aber auch sehr viel nach Südeuropa und hat dort diesen gewaltigen Wirtschaftsboom hervorgerufen. Aber Deutschland kam in die Flaute. Haben wir das schon vergessen? Wir haben eine wachsende Massenarbeitslosigkeit gehabt, die im Jahre 2005 zu fünf Millionen Arbeitslosen führte und kurz vorher die Regierung Schröder zu schwierigen Sozialreformen zwang, um den Sozialstaat zurückzunehmen und die Leute dahin zu treiben, niedrigere Löhne zu akzeptieren. Das haben Ökonomen wie ich für unvermeidlich gehalten, um ein Fiasko auf dem Arbeitsmarkt zu verhindern. Aber es war doch kein Zuckerschlecken. Es waren schwierige Reformen. In dieser Zeit hatte Deutschland die niedrigste Wachstumsrate aller europäischen Länder, die niedrigste Nettoinvestitionsquote aller OECD-Länder. Es war Flaute. Und aus dieser Flaute heraus kriegten wir Leistungsbilanzüberschüsse. Das heißt, die Importe wuchsen nicht mehr, weil die Einkommen nicht wuchsen. Da kaufte man keine Importware mehr. Gleichzeitig führte die Massenarbeitslosigkeit dazu, dass die Löhne zurück blieben. Die Gewerkschaften waren vernünftig, hatten auch nicht mehr so viel Macht, mussten zurückstecken. Und das hat dazu geführt, dass die Preise nicht mehr so schnell stiegen. Deutschland wurde relativ immer wettbewerbsfähiger. Das hat uns nach der Finanzkrise, also nach 2007/08/09, in eine recht komfortable Situation gebracht. Aber es war das Ergebnis einer langen, langen Flaute unter dem Euro.
Wie groß ist denn das Risiko für Deutschland? Sie sagen, es sei noch viel, viel größer als das, was als Haftung im ESM steckt. Sie sagen, da gäbe es noch die Target-Falle. Das ist auch das Thema Ihres neuesten Buches. Was, bitte, ist Target?
Target ist ein Kredit aus der Druckerpresse. Sie müssen sich das so vorstellen: Der Kredit floss über private Kanäle nach Südeuropa bis 2007. Und dann schwappte die amerikanische Finanzkrise über nach Europa. Die Banken hatten Verluste erlitten und kriegten kalte Füße, trauten sich auch nicht mehr nach Südeuropa, zogen also ihre Kredite zurück und gaben auch keine neuen mehr zur Finanzierung des Lebensstandards in Südeuropa. Die Folge war, dass diese Länder sich den Kredit aus der Notenpresse gezogen haben. Jedes Land hat ja eine Notenpresse bei sich zu Hause: eine nationale Notenbank. Und diese Institution darf Geld schaffen.
Nun ist das nicht wörtlich zu verstehen. Die Notenpresse läuft elektronisch heutzutage. Die Notenbanken haben also Geld geschaffen auf dem Papier, und dieses Geld stand dafür zur Verfügung, um sich Güter im Ausland zu kaufen, um dort Schulden zu tilgen oder auch Vermögensobjekte zu erwerben. Das hatte man früher finanziert durch Kredite aus dem Ausland. Die blieben weg. Und jetzt hat man denselben Kredit aus der Druckerpresse gezogen, was per Saldo dazu führte, dass es Zahlungen über die Grenzen hinweg gab. Das ist das Target-Problem. Diese Zahlen werden gemessen durch die Target-Salden.
Und worin besteht jetzt das Risiko für Deutschland?
Das Risiko besteht darin, dass die Bundesbank diese Zahlungen hat kreditieren müssen. Wenn also ein Grieche bei Volkswagen ein Auto gekauft hat, dann hat eben nicht mehr der Grieche bezahlt, sondern die Bundesbank. Die Bank des Griechen gab einen Überweisungsauftrag, und die Bundesbank hat im Auftrag der griechischen Notenbank Volkswagen bezahlt. Das ist normalerweise kein Problem, weil die griechische Notenbank auch für die Bundesbank etwas tut, wenn ein deutscher Kredit nach Griechenland fließt. Das war aber jetzt nicht mehr der Fall, so dass Salden entstanden. Per saldo hat die Bundesbank solche Zahlungen durchgeführt, und sie hat dadurch Forderungen gegen das Eurosystem und damit wiederum gegen die Südländer gekriegt. Diese Forderungen sind in der Geschichte eigentlich immer mit Gold ausgeglichen worden. Heute haben wir kein Goldsystem mehr. Heute haben wir nur noch diese Buchforderungen der Bundesbank gegen das EZB-System, die mit 0,75 Prozent verzinst sind, was noch nicht mal die Inflationsrate ausgleicht. Und diese Forderungen werden, selbst wenn hier kein Unglück passiert und der Euro nicht zerbricht, allmählich mit der Inflation verdampfen. Wir verlieren also unser Sparvermögen. Wenn der Euro aber zerbricht, hat die Bundesbank eine Forderung gegen ein System, das es dann nicht mehr gibt. Diese Forderung ist Ende 2012 700 Milliarden Euro groß. Und allein das schon ist ein Riesenproblem. Das ist ja viel, viel mehr als das bisschen öffentlicher Rettungskredit, über den die Parlamente sich unterhalten. Das ist das Problem.
Sie haben als Erster auf dieses Problem aufmerksam gemacht. Haben Sie den Eindruck, dass Sie gehört werden bei der Bundesbank, bei der Bundesregierung?
Ja, natürlich. Gehört werde ich schon.
Warum wehren sich die dann nicht?
Das frage ich mich auch. Sie mögen dieses Thema nicht, denn wenn sie das Thema auf den Tisch legten, müssten sie ja irgendwelche radikaleren Maßnahmen ergreifen. Da scheut man sich im Moment. Als wir vor anderthalb Jahren damit kamen, sagte die Bundesbank, das seien irrelevante Salden, die sich alle aufheben im Euroraum. "Leute, macht euch keine Sorgen." Dann gab es ein halbes Jahr Funkpause. Und dann hat die Bundesbank aber doch deutlich anders reagiert. Da muss man ein hohes Lob dem jetzigen Bundesbankpräsidenten Weidmann aussprechen, der sich hier deutlich und klar positioniert hat, was diese Risiken betrifft. Weidmann hat im Februar 2012 einen Brief an den Präsidenten der EZB geschrieben, in dem er die mangelnde Sicherung der Target-Salden zum Gegenstand gemacht hat. Die FAZ hatte davon Wind bekommen und darüber berichtet. Dass man das öffentlich nicht mehr unter den Tisch kehren kann, zeigt auch die Rating-Agentur Moody’s, als sie vor ein paar Monaten ankündigte, Deutschland auf die Beobachtungsliste zu setzen, und zwar mit negativem Outlook, also möglicherweise die Bonität Deutschlands für die Kreditmärkte herabzustufen im Hinblick auf die Target-Forderungen der Bundesbank. Das sind erhebliche Risiken, das kann man nicht mehr in Abrede stellen. Es ist eben etwas anderes, ob ich Gold kriege für die Zahlungsbilanzsalden wie früher oder ob ich nur noch eine Buchforderung habe. Im Grunde kann man sich als Südeuropäer im Norden kaufen, was man will. Man kann auch seine alten, normalen Schulden zurückzahlen und lässt alles auf dem Bierdeckel anschreiben, zu 0,75 Prozent. Das ist die Realität, und das ist das Unding, wogegen dieses Buch argumentiert.
Wenn also für Deutschland so viel Negatives in dem System steckt, wie Sie das gerade geschildert haben, war dann aus deutscher Sicht die Einführung des Euro zumindest unter diesen Umständen ein Fehler?
Ja, sicher war sie ein Fehler. Ich muss gestehen, ich war selber und bin immer noch ein Verfechter des Euro, wenn er richtig konstruiert ist. Wir haben damals vor zwanzig Jahren beim Maastrichter Vertrag gedacht, dass hier nur eine Verrechnungseinheit eingerichtet wird und dass wir endlich die flexiblen Wechselkurse loswerden, dass also das Ganze dem Handel und dem Austausch in Europa förderlich ist. Ich erinnere mich noch, wie Leute mich bei einem Vortrag gefragt haben: "Ja, aber was ist denn mit den Schulden in Südeuropa? Die wollen doch im Grunde nur an unser Geld." Da habe ich gesagt: "Nein, da braucht ihr keine Sorgen zu haben. Das steht im Maastrichter Vertrag, dass die Schulden nicht vergemeinschaftet werden." Ja, und jetzt muss ich zu meiner Schande gestehen, dass meine Gläubigkeit an das Recht einen Knacks gekriegt hat in dieser Krise. Man hält sich überhaupt nicht daran. Frau Lagarde, die ehemalige französische Finanzministerin, die jetzt Chefin des IWF ist, hat im Frühjahr 2010, als man den Maastrichter Vertrag gekippt hat, gesagt: "Wir mussten das Recht brechen, weil es ein Notfall war." Da kann ich nur mit den Schultern zucken und sagen: Wieso ist denn ein Notfall die Berechtigung, das Recht zu brechen, wenn dieser Notfall im Maastrichter Vertrag explizit angesprochen ist und gesagt wird: Wenn ein Land pleite ist, muss es abgewickelt werden, und andere Länder dürfen dann nicht zur Hilfe kommen. Das steht explizit darin.
Sollte Deutschland aus dem Euro austreten?
Nein.
Wieso nicht? Sie schildern doch lauter negative Implikationen, lauter Risiken, die wir eingegangen sind. Was hilft denn statt dem Austritt?
Das ist wie mit einem Kuchen: Wenn er gebacken ist, kann ich die einzelnen Zutaten nicht mehr so leicht rausholen. Mit der Idee, dass Deutschland wirklich austritt, sollte man nicht spielen. Das Problem liegt im Wesentlichen bei einzelnen Ländern. Bevor Deutschland austritt, sollten Griechenland und das eine oder andere Land, das nicht zurecht kommt im Euro, austreten. Ich halte das nicht für ein Unglück, besonders wenn man das planmäßig gestaltet.
Aber wir können doch Griechenland nicht dazu zwingen.
Nein, natürlich nicht. Aber Griechenland kann auch uns nicht dazu zwingen, immer mehr zu bezahlen. Und wenn wir nicht immer mehr Kredite geben, dann wird Griechenland von selbst austreten. Wenn Griechenland nicht die Möglichkeit hat, sich den Kredit, wie das zuletzt im Herbst 2012 wieder passiert ist, im großen Umfang aus der Notenpresse zu ziehen, sondern wenn striktere Regeln verwendet werden, wie sie der Bundesbankpräsident fordert, dann werden sie natürlich sofort selber austreten, denn wie sollen sie denn ihre Leute sonst bezahlen? Wir treiben diese Länder im Euro in die Rezession. Dadurch fallen die Importe. Das bedeutet, dass die Außenhandelssalden sich verbessern. Aber das reicht nicht. Was wir wirklich brauchen, ist eine Änderung der relativen Preise. Die Länder müssen billiger werden, so dass man mit Vollbeschäftigung weniger importiert. Und das geht nur, wenn die heimischen Waren relativ billiger werden. Es führt kein Weg an der Änderung der relativen Preise vorbei. Das ist die Fundamentalaussage der Ökonomen zu diesem Sachverhalt. Und diese Preissenkung sehen wir halt noch überhaupt nicht – außer in einem einzigen Land: Irland. Irland kam zwei Jahre vor den anderen in die Krise und hat die Preise gesenkt. Aber die anderen tun es nicht, weil sie über die Rettungsschirme und über die Druckerpresse sich halt selber retten.
Das ist alles gut nachvollziehbar und sehr, sehr schlüssig. Aber ich hätte dieses Gespräch auch mit jemand anderem führen können, der mir in wesentlichen Fragen genau das Gegenteil gesagt hätte. Er hätte gesagt: Griechenland muss im Euro bleiben, die Bankenunion ist richtig, und Deutschland muss mehr Solidarität zeigen. Hier stehe ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor.
Um festzustellen, was hier die Fachmeinung ist, sollte man nicht dem folgen, was die Medien herauspicken an Ökonomen aus dem breiten Spektrum der Meinungen – da findet man immer Leute mit anderer Meinung –, sondern auf das "Ökonomen-Plenum" schauen. Das ist eine Plattform, zu der sich die Fachökonomen Deutschlands zusammengefunden haben, und da wird zu solchen Fragen eine mehrheitliche Antwort gefunden. Vor kurzem hat dieses „Ökonomen-Plenum“ zu der Krise festgestellt, dass wir unter keinen Umständen die Bankenschulden in Südeuropa sozialisieren sollten, sondern dass wir die Banken rekapitalisieren müssen, indem die Gläubiger auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten und dass man diese Forderung in Eigenkapital umwandelt. Ich würde stets solche Informationen zu Rate ziehen, um einen Überblick zu kriegen, was die Fachökonomen wirklich meinen, und mich nicht darauf verlassen, was durch die Selektion der Medien unter den Professoren unseres Faches herausgepickt wird. Ich kann immer durch geschicktes Herausfiltern von Meinungen ein beliebiges Bild der Meinung einer Profession erzeugen. Da kommen wir nicht weiter. Letztendlich entscheiden am Ende nicht die Ökonomen, sondern die, die in Verantwortung gewählt sind durch uns: Angela Merkel, Hollande, Monti, Rajoy.
Haben Sie den Eindruck, dass sie die Folgen der Entscheidungen überblicken, die sie in ihren nächtlichen Sitzungen in Brüssel treffen?
Aus der Sicht der Vertreter der südlichen Länder ist die Strategie klar. Die wollen so viel wie möglich an öffentlichen Krediten über die Rettungsschirme haben. Sie wollen ihre Schulden in Europa sozialisieren, um die Lasten möglichst zu verteilen auch auf den Norden hin. Das ist ja eindeutig. Frau Merkel müsste eigentlich dagegen sein, ist ja auch dagegen und hält dagegen. Man kann nicht in Abrede stellen, dass sie nun gar nichts tut, sondern sie hat einen ganz, ganz schwierigen Kurs zu fahren. Aber ich würde mir schon wünschen, dass Frau Merkel mehr auf die lange Frist schaut. Denn es geht nicht darum, die Finanzmärkte jetzt bis zur nächsten Wahl zu beruhigen. Es geht darum, für unsere Kinder eine Perspektive zu schaffen und zu verhindern, dass unsere Kinder zu Gläubigern der südlichen Länder werden, damit sie in Frieden mit ihnen leben können.
Prof. Dr. Hans-Werner Sinn ist Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung. Im Oktober 2012 erschien sein Buch "Die Target-Falle – Gefahren für unser Geld und unsere Kinder".
Alfred Schier ist Redaktionsleiter beim Nachrichten- und Dokumentationssender Phoenix und moderiert dessen Interviewsendung "Im Dialog". Am 14. Dezember 2012 sprach er mit Hans-Werner Sinn.
Stellungnahmen zum Buch
"Noch läuft die große Finanzmaschine, aber Hans-Werner Sinn kommt mir vor wie ein unglaublich penibler und umsichtiger Ingenieur, der im Inneren einen Konstruktionsfehler entdeckt hat, den alle übersehen haben. Das ist das Buch dieser Entdeckung und es ist so spannend geschrieben und so beunruhigend im Detail, dass ich es in einem Zuge durchgelesen habe."
Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
"Wieder einmal versteht es Hans-Werner Sinn glänzend, komplexe Zusammenhänge verständlich darzustellen und mit einer wichtigen Botschaft zu verbinden."
Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Otmar Issing, ehem. Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank
"Dieses großartige und große Werk lässt die Schuppen von den Augen fallen.“
Prof. Dr. E. W. Streissler, Universität Wien
"Ich bin begeistert. Mit diesem Buch hat Sinn nun endgültig sein Meisterstück vollbracht. Es ist so gut geschrieben, dass es sicher auch viele Nicht-Ökonomen verstehen werden. Es ist aufrüttelnd, ohne reißerisch zu sein."
Prof. Dr. Friedrich Breyer, Universität Konstanz
"H.-W. Sinn bietet eine hervorragend klare Gesamtsicht der Gefahren staatlicher Verschuldung und des Auseinanderdriftens der Wettbewerbsfähigkeit in der EU. Die starke Zunahme der Schulden der südlichen Länder bei der Europäischen Zentralbank und der entsprechenden verlustgefährdeten Guthaben der stabilen Mitglieder wird zu Recht betont. Dieses Buch sollte alle Deutschen schon wegen der Zukunft ihrer Kinder zutiefst interessieren."
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Bernholz, Universität Basel
"Die Target-Falle von Hans-Werner Sinn klärt die grundlegenden Schwächen des Euro-Systems. Es beschränkt sich auch nicht darauf, falsche Linien der Euro-Rettungspolitik aufzuzeigen, und schlägt neue Wege zur nachhaltigen Stabilisierung der Währungsunion vor."
Prof. Dr. Helmut Schlesinger, ehem. Präsident der Deutschen Bundesbank