Wer gelesen werden will, fasse sich kurz. Den neuen Hans-Werner-Sinn, ein kleines Büchlein im Reclam-Format nimmt man schon deshalb gern in die Hand, weil der gedankenreiche und viel zitierte Professor damit in die Westentasche passt: genauer gesagt: die Essenz seiner Reformvorschläge für Deutschland, die ihm der Herausgeber des Buches, Jens Schadendorf, in Form eines Interviews entlockte.
Die Agenda 2010, die Professor Sinn seinerzeit maßgeblich mitgestaltet hat, müsse, so fordert er, weiterenwickelt werden durch mehr Lohnflexibilität (weg von den Flächentarifverträgen) und staatliche Lohnzuschüsse (statt Unterstützung außerhalb der Arbeit). Solange eine radikale Steuerreform wegen steigender Staatsausgaben noch nicht möglich sei, sollten jedenfalls alle Freibeträge, Freigrenzen und Progressionsgrenzen jährlich automatisch mit der Wachstumsrate des nominalen Sozialprodukts heraufgesetzt werden, damit die Abschöpfung der Wirtschaftsleistung durch den Staat nicht unverhältnismäßig steigt ("Steuertarif auf Rädern"). Obwohl Sinn daran glaubt, dass es der anthropogene CO2-Ausstoß sei, der das Klima verändert, plädiert er gegen die Energiewende und den Ausstieg aus der Atomkraft; Wind- und Sonnenenergie könnten die Grundlast nicht tragen. Der katastrophalen demografischen Entwicklung will er entgegenwirken durch eine flächendeckende Kinderbetreuung nach französischem Vorbild, ein "Kindersplitting" statt des Ehegattensplittings und eine Elternrente, gekoppelt mit erweitertem Sparzwang für Kinderlose. Die Zuwanderung in den ohnehin bereits überlasteten Sozialstaat müsse und könne nur gestoppt werden durch eine EU-weite Reform. Sinns für Konservative schwer verdauliche Forderung nach Einführung der Ganztags- und der Gesamtschule zwecks Hebung des Bildungsniveaus gewinnt Gewicht durch seine Warnung vor einer Wiederholung der Fehler der 1970er Jahre, als dieses Schulkonzept mit der falschen Grundidee einer antiautoritären Erziehung verbunden wurde. Versöhnt wird der Konservative durch das Kinderwahlrecht für Eltern, das zu Sinns Demokratiereform für mehr Nachhaltigkiet politischer Entscheidungen gehört.
Zum Thema Eurokrise, das nur gestreift wird, weil Professor Sinn es in seinem Buch "Die Target-Falle" (das übrigens demnächst auch auf Englisch herauskommt) gründlich abgehandelt hat, fordert er einen möglichst schnellen Ausstieg aus der Rettungsspirale und eine Rückkehr zum Maastrichter Vertrag. Geordnete und finanziell unterstützte temporäre Austritte aus der Eurozone, die einhergehen mit Schuldenschnitten zulasten der privaten Gläubiger, seien unerlässliche Voraussetzungen für die Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit mancher südeuropäischer Staaten, und diese sei wiederum das Wichtigste für die Wiederherstellung des sozialen Friedens in Europa.
Man muss die Langmut des westfälischen Professors bewundern, mit der er stets umgänglich und kollegial auf die nach seiner Analyse doch fortgesetzt versagenden herrschenden Volksdiener und Vorkswirte eingeht. Außer an seiner Höflichkeit mag dies auch daran liegen, dass er selbst aus der Schulklasse der Euro-Befürworter herkommt, seine Aufgabe als Volkswirt und Finanzwissenschaftler darin sieht, "die Marktfehler zu analysieren, darauf aufbauend sinnvolle Regulierungssysteme zu entwickeln und umgekehrt auch falsche Regulierungen zu kritisieren", und überhaupt als neoklassischer Gleichgewichtstheoretiker systemimmanent denkt. Die Geldsystemfrage stellt er jedenfalls nirgends. Das noch recht junge, mittlerweile weltweite Experiment der monetären Planwirtschaft eines Teilreservebankwesens auf Papiergeldbasis ist für ihn kein Thema, und eine echte Reform der Geldordnung - nicht bloß des Zuschnitts der Währungsgebiete in Europa -, die ganz oben auf jede Reformagenda gehört, vermissen wir auf seiner.
Gleichwohl, oder gerade weil Professor Sinn das Schuldgeld-System und die Zentralbankwirtschaft als solche nicht in Frage stellt und daher auch vom politischen Establishment und wissenschaftlichen Mainstream angehört wird, sollte man sich für die Wochen vor der Bundestagswahl einen Fundus dieses im übrigen herrlich klarkantigen und als aufrüttelnde Handreichung geeigneten Büchleins zulegen und immer, wenn einem aus Wahlkampfständen von Politikern ein Parteiprogramm entgegengereckt wird, es mit Professor Sinns in jedem Falle besseren "Zukunftsprogramm für Deutschland" quittieren: Verspielt nicht unsere Zukunft"