Der Präsident des ifo Instituts und Ordinarius für Finanzwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München, Hans-Werner Sinn, ist weit über Deutschland hinaus anerkannt und der in der internationalen Forschung am häufigsten zitierte deutsche Ökonom. Finanzwissenschaft interpretiert er vor allem als Lehre davon, was der Staat in einer Marktwirtschaft wie der unseren tut und tun sollte. Im Unterschied zu vielen seiner Kollegen beschränkt er deshalb seine Tätigkeit nicht nur auf die bei VWL-Professoren oftmals übliche und von der aktuellen Politik abgehobene Lehre und Forschung, sondern will - "…als Wissenschaftler und engagierter Bürger, dem das Schicksal des Landes und seiner Menschen am Herzen liegt…." (Schadendorf im Vorwort, S. 11) informieren, aufklären und aufrütteln. "Es ist mein Auftrag, mich zur Wirtschafts- und Finanzpolitik öffentlich zu äußern und Debatten zu initiieren und zu führen, wo ich es für sinnvoll halte."
Das vorliegende kompakte Bändchen ist das Ergebnis mehrerer längerer Gespräche, das der Autor im Winter 2012/13 mit Jens Schadendorf, Unternehmensberater und Co-Herausgeber der "Edition-Debatte" im Redline Verlag, geführt hat. Daraus entwickelte sich eine Bestandsaufnahme wichtiger Herausforderungen, vor denen Deutschland nach Meinung des Verfassers heute steht. Dazu gehört unbedingt auch die Bewältigung der Eurokrise. Da sich der Autor mit dieser Problematik jedoch schon in anderen Publikationen ausführlich auseinandergesetzt hat, konzentriert er sich vor allem auf solche "Reformhausaufgaben", welche Deutschland auch ohne Zutun seiner europäischen Partner angehen kann und die infolge der Eurokrise zu sehr aus dem Blick geraten sind. Im Wesentlichen werden fünf ökonomische Themen diskutiert und entsprechende Forderungen postuliert.
1. Arbeitsmarkt: Die erfolgreichen Schröderschen Reformen (Agenda 2010) sollten nicht aufgeweicht, sondern durch mehr Lohnflexibilität und Lohnzuschüsse, also Verbesserung der Hinzuverdienstmöglichkeiten, gezielt weiterentwickelt werden. Allgemeinverbindliche Mindestlohnregeln für die einzelnen Branchen oder sog. Lohnuntergrenzen gefährden hingegen die strukturelle Gesundung des Arbeitsmarktes und den Niedriglohnsektor. Motto muss sein, dass jeder, der arbeiten will, arbeiten kann und dann - unterstützt durch Lohnzuschüsse - genug zum Leben hat. Nur eine solche Unterstützung der Menschen "in der Arbeit" ist menschenwürdig.
2. Steuerpolitik: Wegen der wachsenden staatlichen Zahlungsverpflichtungen und -versprechungen ist auf absehbare Zeit keine große Steuerreform zu realisieren. Es sollte jedoch möglich sein, einen "Steuertarif auf Rädern" einzuführen, d. h. alle Freibeträge, Freigrenzen und Progressionsgrenzen sollten jährlich automatisch mit der Wachstumsrate des nominalen Sozialprodukts heraufgesetzt werden. Nur dann kann verhindert werden, dass der Staat in der inflationär wachsenden Wirtschaft laufend einen größeren Prozentanteil der Leistungen abzieht und nur gelegentlich an die Bürger als vermeintliche Steuersenkungen zurückgibt.
3. Energiepolitik: Klimapolitik kann nur weltweit gelöst werden. Deshalb - aber auch um eine sichere und bezahlbare Energieversorgung für den Industriestandort Deutschland zu gewährleisten - fordert Sinn einen "Ausstieg aus dem Atomausstieg" mit einem funktionierenden Emissionshandelssystem sowie sicheren Atomkraftwerken. Dazu gehören scharfe staatliche Kontrollen und der Zwang, umfangreiche Haftpflichtversicherungen in Form von sog. Cat-Bonds abzuschließen. Infolgedessen werden sich die Kraftwerksbetreiber auch aus monetären Gründen um die Verbesserung der Sicherheitsstandards bemühen.
4. Familienpolitik: Die Kinderarmut ist die Zeitbombe unserer Gesellschaft. Unter allen OECD-Ländern hat Deutschland die geringste Geburtenrate im Sinne der Zahl der Neugeborenen relativ zur Bevölkerung. Wenn wir uns nicht aufgeben und den drohenden Verteilungskampf zwischen den Generationen noch abwenden wollen, muss ein Geschäftsmodell entwickelt werden, das die Leistung der Eltern stärker anerkennt. Dazu gehören u. a. die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Form einer früh verfügbaren flächendeckenden Kinderbetreuung zu garantieren, eine Kinder- oder Elternrente, ein Kindersplitting als Grundlage der Steuerberechnung und nicht zuletzt die Erhöhung des Sparzwangs für Kinderlose.
5. Zuwanderungspolitik: Zur Vermeidung der katastrophalen Folgen der demografischen Entwicklung braucht Deutschland nicht nur mehr Kinder, sondern auch eine stärkere Zuwanderung aus dem Ausland. Eine Immigration ist grundsätzlich dann sinnvoll und wünschenswert, wenn sie durch Lohnunterschiede und die Verfügbarkeit von Arbeitsplätzen getrieben wird und es zu einem Wohlstandsgewinn für die Immigranten und die deutsche Gesellschaft gleichermaßen kommt. Hingegen ist die Zuwanderung dann problematisch, wenn sie vom Sozialstaat angeregt wird. Sinn befürchtet ein Anschwellen der schon heute zu beobachtenden Armutsmigration in den deutschen Sozialstaat. Die Lösung dieses Problems kann nach Ansicht des Autors nicht darin liegen, die Freizügigkeit in der EU zu beschränken, sondern den "Zuwanderungsmagneten" abzuschalten, d. h. die konsequente Anwendung des Heimatlandprinzips für soziale Leistungen. Nach Ansicht des Verfassers ist deshalb das derzeit geltende Inklusionsprinzip, das eine solche Lösung ausschließt, abzuschaffen.
Die weiteren Forderungen befassen sich mit der Reform des Bildungswesens (Hebung der Begabungspotenziale durch Ganztagsschule, Stärkung des Systems der dualen Ausbildung anstelle einer Erhöhung der Hochschulquoten) und mit der Verbesserung der Langfristigkeit von politischen Entscheidungen (z. B. längere Regierungsperioden, eine verbindliche Berechnung der finanziellen Folgen aller Regierungsentscheidungen, Einführung eines Political Governance Kodex und eines Wahlrechts der Eltern für ihre noch unmündigen Kinder). Abschließend bekräftigt der Autor seine schon anderenorts vehement vorgetragene Forderung nach einer Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit der Euro-Krisenländer. Für Deutschland fordert Sinn einen geordneten Ausstieg aus der Euro-Rettungsspirale und ein Zurück zum Maastrichter Vertrag. Zusätzlich bedarf es der Ergänzung durch eine Konkursordnung für Staaten mit einer wohl definierten Hilfsprozedur, die von der Liquiditätskrise über die drohende Insolvenz bis hin zum Konkurs und Austritt aus der Währungsunion führt.
Fazit: Wer immer sich für die Konturen eines neuen Zukunftsprogramms für Deutschland interessiert, findet in diesem lesenswerten Bändchen interessante und geistreiche aber auch teils unbequeme und - angesichts der vom Autor zu Recht beklagten Beratungsresistenz der Politik - gelegentlich fast utopisch anmutende Ideen und Vorschläge.