"Verspielt nicht eure Zukunft" heißt das neue Buch von Hans-Werner Sinn, Präsident des ifo Instituts. Er erklärt, was die Politik sofort in Angriff nehmen muss - egal, wer die Wahl gewinnt.
Außerhalb der bekannten Eurofrage besteht in folgenden sieben Bereichen dringender Handlungsbedarf:
01. Die Agenda 2010 gezielt weiterentwickeln.
Es ist ein großer Fehler, dem Zeitgeist folgend Mindestlöhne oder Lohnuntergrenzen abzunicken. Damit gefährden wir den Niedriglohnsektor, der uns viel Dynamik gebracht hat. Stattdessen sollten wir noch stärker auf Lohnzuschusselemente setzen. Jeder, der arbeiten will - Geringqualifizierte wie Frührentner - , muss zu den Konditionen des Markts arbeiten können. Die Lohnzuschüsse sorgen dafür, dass er durch seine Arbeit genug zum Leben hat.
02. Den Steuertarif auf Räder stellen.
Es kann nicht angehen, dass der Staat dank des an Nominalwerten ausgerichteten progressiven Einkommensteuertarifs laufend einen größeren Anteil der Wirtschaftsleistungen abzieht. Alle Freigrenzen, Freibeträge und Progressionsgrenzen müssen darum jährlich automatisch mit der Wachstumsrate des nominalen Sozialprodukts heraufgesetzt werden. Dieser Steuertarif auf Rädern, der die kalte Progression vermeidet, sorgt dafür, dass der Staat ebenso sorgsam mit knappen Mitteln wirtschaften muss wie wir Bürger.
03. Aus Energiewende und Atomausstieg aussteigen.
Die Räder einer Industriegesellschaft lassen sich nicht allein mit Wind- und Sonnenstrom drehen. Wir können uns deshalb den Ausstieg aus der Atomkraft nicht leisten. Und er ist auch nicht sinnvoll. Erstens wird die Welt nicht sicherer, wenn wir Atomstrom aus dem Ausland kaufen müssen. Besser wäre neben staatlichen Kontrollen ein Zwang für die Betreiber, umfangreiche Haftpflichtversicherungen abzuschließen. Dann hätten sie einen ökonomischen Anreiz, selbst für eine Verbesserung der Sicherheitsstandards zu sorgen. Auch dem Weltklima nützt unsere Energiewende nichts. Dafür benötigen wir ein weltweit funktionierendes C02-Emissionshandelssystem. Solange dabei nicht alle mitmachen, werden die geförderten fossilen Brennstoffe, die wir nicht verbrauchen, nur woanders verbrannt.
04. Den drohenden Verteilungskampf zwischen den Generationen mit moderner Familien-, Mütter- und Kinderpolitik abwenden.
Unsere Kinderarmut ist eine Zeitbombe. Wir brauchen ein Gesellschaftsmodell, das die Leistung der Eitern bei der Kindererziehung stärker anerkennt. Familien zahlen für die Kinder. Und die Kinder später in Form horrender Sozialversicherungsabgaben für die Gesellschaft. Um dies auszugleichen, müssen Kinder in der Rentenformel berücksichtigt werden. Eine Kinder- oder Elternrente, gekoppelt mit einem Sparzwang für Kinderlose, ist das Mindeste. Das reale Pro-Kopf-Einkommen eines Haushalts zur Grundlage der Steuerberechnung zu machen - so funktioniert das französische Kindersplitting - sowie flächendeckende Kinderbetreuung und Ganztagsschulen sind nützliche Ergänzungen.
05. Zuwanderungsmagnet abschalten, den Sozialstaat retten.
Zuwanderung ist eine gute Sache. Problematisch ist aber die Zuwanderung in den deutschen Sozialstaat. Jeder EU-Bürger, der sich fünf Jahre selbst in Deutschland versorgt, hat danach lebenslang Ansprüche auf alle nicht beitragsfinanzierten Leistungen des deutschen Sozialstaats - Wohngeld, Sozialhilfe, Krankenversicherung. Das kann dieser nicht durchhalten. Ich plädiere deshalb für das Heimatlandprinzip. Jeder Sozialhilfeempfänger eines EU-Landes soll seine Sozialhilfe in dem EU-Land konsumieren dürfen, wo er möchte. Nur sollte nicht sein Wohnsitzland, sondern sein Heimatland für die sozialen Leistungen zuständig sein.
06. Schulen endlich reformieren, Bildungsreserven heben.
Wir sollten die Trennung der Schüler nach dem erfolgreichen finnischen Vorbild auf ein deutlich späteres Lebensjahr verschieben und die Ganztagsschule einführen- mit Lehrkräften, die fachlich wie pädagogisch erstklassig sind. Deren verbesserte Ausbildung muss uns auch etwas wert sein. Außerdem sollten wir unser sehr erfolgreiches System der dualen Ausbildung stärken und verbessern, anstatt eine Erhöhung der Hochschulquoten anzustreben.
07. Langfristigkeit in politische Entscheidungen bringen.
Die große Schwäche unserer Demokratie ist, dass Entscheidungsprozesse meist auf die kurze Frist ausgelegt sind. Statt heute jemandem auf die Füße zu treten, lösen unsere Politiker die Verteilungsprobleme in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik oft zulasten künftiger Generationen, die sich nicht wehren können, weil sie noch nicht abstimmen dürfen. Längere Regierungsperioden, eine verbindliche Berechnung der finanziellen Folgen aller Regierungsentscheidungen als Entscheidungshilfe für Wähler und das Kinderwahlrecht für Eitern sind Ideen, die ökonomisch betrachtet die Funktionsfähigkeit der Demokratie verbessern könnten.