Internetartikel von Hans-Werner Sinn, Project Syndicate, 25.10.2011
Im August hat die europäische Zahlungsbilanzkrise auch Italien erfasst. Die Zinsspreads für italienische Staatsanleihen stiegen an, die Regierung Berlusconi reagierte mit einem Sparprogramm, und die EZB half mit Krediten.
Bekanntlich wies die EZB die nationalen Zentralbanken an, große Mengen an italienischen Staatsanleihen zu kaufen. Dass deren Bestand an insgesamt erworbenen Staatsanleihen von 74 Mrd. Euro am 4. August auf derzeit 165 Mrd. Euro angestiegen ist, lag vermutlich im Wesentlichen an Italien.
Die Deutsche Bundesbank, die 27% dieser Anleihen kaufen musste, widersetzte sich vergeblich. EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark trat deswegen zurück. Schon im Februar war Bundesbankpräsident Weber wegen der früheren Käufe von Staatsanleihen zurückgetreten. Auch der neue Bundesbank-Präsident Jens Weidmann brachte seine Ablehnung offen zum Ausdruck. Bundespräsident Christian Wulff warf der EZB öffentlich vor, den Vertrag von Maastricht zu umgehen.
Die Anleihekäufe sind indes nur die Spitze des Eisbergs. Ebenso wichtig, aber noch kaum bekannt, ist der Umstand, dass nun auch die Banca d’Italia Target-Kredite gezogen hat, also ihre Druckerpresse aktiviert hat, um Italiens gigantisches Zahlungsbilanzdefizit zu schließen. Hinter dem zusätzlich gedruckten und verliehenen Geld, wie es durch das Target-Defizit Italiens gemessen wird, steht wirtschaftlich ein Kredit der EZB. Dieser Kredit ersetzt die privaten Kapitalimporte, die zuvor den Nettoerwerb von Gütern aus dem Ausland finanzierten, aber nun wegen der Krise versiegt sind, und er finanziert auch die Kapitalflucht aus Italien, d.h. den Kauf von Vermögensobjekten im Ausland. Die EZB zieht umgekehrt Target-Kredit von jener Zentralbank, zu der das neu gedruckte Geld fließt und die deshalb eine Reduktion ihrer Kreditvergabe an die Banken akzeptieren muss. Das ist fast immer die Bundesbank.
Bis Ende Juli kamen die Target-Kredite fast ausschließlich von Griechenland, Irland, Portugal und Spanien (GIPS) zugute: 330 Mrd. Euro waren bis dahin aufgelaufen. Italien galt demgegenüber als stabil und brauchte dieses Geld nicht. Das ist nun anders.
Allein im August zog die italienische Zentralbank Banca d’Italia einen Target-Kredit von 40 Mrd. Euro aus dem EZB-System, und im September folgten wahrscheinlich noch einmal rund 50 Mrd. Euro. Die September-Zahlen für Italien sind noch nicht veröffentlicht, aber es ist bekannt, dass die Target-Salden der Bundesbank in diesem Monat um 59 Mrd. Euro zugenommen haben, nach 47 Mrd. Euro im August. Das ist der höchste Target-Kredit, der jemals von der Bundesbank gezogen wurde, und hinter ihm kann nur Italien stecken.
Wir sehen derzeit eine Explosion der Target-Kredite in Zeitlupe. Der Bestand der Target-Kredite der Bundesbank lag noch bis Mitte 2007 bei etwa Null, doch inzwischen ist er auf 450 Mrd. Euro gestiegen -- zusätzlich zu den Anleihekäufen.
Da Italiens Leistungsbilanzdefizit nur bei etwa 3 bis 4 Milliarden Euro pro Monat liegt, muss der italienische Target-Kredit vor allem der Kompensation der Kapitalflucht gedient haben. Die italienischen Anleger verkauften ihre Assets an die Banken, und die bezahlten sie mit dem neu gedruckten Geld. Die italienischen Anleger verwendeten ihre Erlöse dann, um in Deutschland Aktien, Obligationen und anderer Wertobjekte zu kaufen. Im Kern hat Deutschland Target-Forderungen gegen marktfähige Vermögensgüter eingetauscht.
Infolge der zuvor schon gezogenen Target-Kredite von Griechenland, Irland, Portugal und Spanien ist der Bestand an Netto-Refinanzierungskredit, der von der Bundesbank vergeben wurde, in den letzten drei Kalenderjahren um rund 30 Mrd. Euro pro Jahr geschrumpft. Zuletzt lag er Ende 2010 bei gerade noch 90 Mrd. Euro. Es war vorhersehbar, dass er in den nächsten Jahren bis auf Null heruntergedrückt werden würde.
Die italienischen Target-Kredite haben diese Prognose nun aber zur Makulatur werden lassen. Bereits im September 2011 rutschte der Netto-Bestand an Refinanzierungskrediten der Bundesbank nach Abzug der Einlagefazilitäten in den negativen Bereich. Damit hat die Verschiebung des Refinanzierungskredits über das Target-System durch die EZB bereits ihr Ende erreicht, drei Jahre früher als der Trend der letzten drei Jahre signalisiert hatte.
Das ist natürlich nicht das Ende der Welt, nicht einmal der EZB. Jedoch hat ein neues Regime begonnen, in dem die Bundesbank sich nun immer mehr bei den privaten Banken verschuldet, um das Fluchtgeld, das aus den Krisenländern kommt, aufzusaugen. Diese Länder aktivieren umgekehrt die Druckerpresse, um die Kapitalflucht zu kompensieren.
Damit betritt die Eurozone eine gefährliches Territorium, denn Einlagefazilitäten zählen als Zentralbankgeld und haben ein Inflationspotenzial, weil die deutschen Banken sie jederzeit zurückrufen können. Wenn sie das tun, könnte mehr in Europa explodieren als nur der von Italien gezogene Target-Kredit.
Hans-Werner Sinn ist Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Universität München und Präsident des ifo Instituts.