Presseartikel, Die Welt, 10.10.2015, S. 12
Top-Ökonom Hans-Werner Sinn glaubt nicht, dass Griechenland und Portugal ihre Staatsfinanzen in den Griff bekommen.
Das Voranstolpern der Retter, die stetig neue Optimierung von Krisenmoment zu Krisenmoment haben eine verhängnisvolle Pfadabhängigkeit geschaffen, die die Unterzeichner des Maastricht-Vertrages einst zu verhindern versucht hatten. Diese Pfadabhängigkeit bringt uns weder den Vereinigten Staaten von Europa näher noch dem Frieden und der Prosperität, die jedermann erhofft.
Ehe neue Regeln für ein langfristig lebensfähiges Euro-System implementiert werden können, bedarf es einer kurzfristigen Lösung des europäischen Schuldenproblems. Ob die Schulden eines Landes tragfähig sind, hängt stark von der Wachstumsrate der Volkswirtschaft ab. Daher kann man auch solchen Schulden, die in Wahrheit untragbar sind, bei passenden Annahmen über Wachstumsraten den Anschein der Tragbarkeit verleihen. Dass die Ermittlung der Tragfähigkeit von Staatsschulden bisweilen einem politischen Abwägungsprozess unterworfen ist, zeigt auch die widersprüchliche Beurteilung der griechischen Staatsfinanzen im Juli 2015. Während die EU-Kommission in einer Vorausrechnung, die dem Bundestag vorgelegt wurde, bei der Tragfähigkeit Griechenlands lediglich Anlass zur Besorgnis sieht, betonte der Internationale Währungsfonds (IWF), dass die griechischen Schulden „inzwischen nur noch durch Entschuldungsmaßnahmen auf ein tragfähiges Niveau gesenkt werden (können), die weit über das hinausgehen, was Europa bislang in Betracht zu ziehen bereit war“.
Leider lässt sich dieses Dilemma auch nicht dadurch auflösen, dass man versucht, mit neuen Schulden Wachstum zu schaffen, denn kreditfinanzierte Staatsausgabenprogramme haben nur einen temporären Effekt auf die Wirtschaftstätigkeit, der schnell wieder verpufft, während sie den Schuldenbestand dauerhaft erhöhen. Man kann sich durch neue Schulden für eine gewisse Zeit Luft verschaffen, indem man der Binnenwirtschaft eines Landes künstliche Nachfrage zuführt, vielleicht lange genug, um bis zur nächsten Wahl durchzuhalten. Deswegen lieben ja die Politiker den Keynesianismus, der ihnen das Gewissen erleichtert. Schulden lassen sich nicht mit Schulden bekämpfen.
Die Wahrheit hinter dem Schuldenproblem ist bitter, denn das künstliche, inflationäre Wachstum, das die Kreditblase in den Krisen-Ländern erzeugte, bevor die Krise ausbrach, hat das wahre Schuldenproblem für viele Jahre verdeckt. Weil sich diese Länder übermäßig verschuldeten, überhitzten sie ihre Wirtschaft und weil die Wirtschaft überhitzte, blieb ihre Schuldenquote moderat oder fiel sogar für einige Jahre, wie im Fall von Spanien oder Irland. Die Überhitzung erhöhte den Nenner der Schuldenquote, nämlich das BIP, und hielt außerdem den Zuwachs des Zählers, also der Schulden, klein, weil das Wachstum dem Staat neue Steuereinnahmen verschaffte. Beide Effekte schufen die Illusion, dass das Schuldenproblem unter Kontrolle war und die Länder in der Lage sein würden, aus ihm herauszuwachsen. Tatsächlich beraubte dieser Prozess die Länder ihrer Wettbewerbsfähigkeit, führte sie in die Stagnation und machte die Schulden in vielen Fällen untragbar.
Insbesondere Griechenland benötigt einen neuen Schuldenschnitt; dieses Mal freilich zulasten der öffentlichen Gläubiger. Der erste griechische Schuldenschnitt vom März 2012 kostete ausländische und griechische private Investoren rund 105 Milliarden Euro. Die Restrukturierung im November 2012 bedeutete Vermögensverluste für andere Staaten der Euro-Zone von rund 43 Milliarden Euro in Gegenwartswerten. Ein weiterer Schuldenerlass zugunsten Griechenlands ist unerlässlich. Portugals Situation ist lange nicht so schlecht, doch ebenfalls viel zu schlecht, um damit zurechtzukommen. Portugal ist ebenfalls ein Kandidat für eine Schuldenrestrukturierung.
Staatskonkurse sind wahrlich nichts Ungewöhnliches in der Geschichte. Seit den 50er-Jahren haben Schuldenschnitte private Gläubiger nicht weniger als 186 Mal in 95 Ländern dazu gezwungen, dem Tausch ihrer Staatsanleihen oder Bankpapiere zuzustimmen.
Angesichts der umfangreichen Quervernetzungen der Kreditbeziehungen erscheinen Maßnahmen, die sich darauf beschränken, Laufzeiten zu verlängern und Zinssätze zu reduzieren, wie im Falle Griechenlands und Irlands, kaum als ratsam. Versteckte Schuldenschnitte sind keine wirklichen Lösungen, sondern Vertuschungsversuche, die es den öffentlichen Gläubigern erlauben, Abschreibungsverluste in ihren Büchern zu verschleiern und der Öffentlichkeit mehr Staatsvermögen vorzutäuschen, als tatsächlich vorhanden ist. Versteckte Schuldenschnitte geben den Staaten die Möglichkeit, die Abschreibungsverluste nicht defizitrelevant verbuchen zu müssen. Dadurch erhalten sie sich den rechtlichen Spielraum für eine Neuverschuldung im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts und können die Lasten der Schuldenschnitte zukünftigen Generationen aufbürden.
Die notwendigen Schuldenschnitte bei den Staatsschulden, den Bankenschulden und den Target-Schulden der nationalen Notenbanken werden nicht nur private Anleger, sondern auch staatliche Gläubiger treffen, die im Übrigen auch noch für die Rekapitalisierung der verschiedenen Rettungsfonds aufkommen müssen und anteilig an den Verlusten der EZB beteiligt sind. Zu Beginn der Krise hätten die Staaten diese Verluste vermeiden können, doch nachdem sie direkt, und indirekt auf dem Wege über die EZB, die privaten Gläubiger gerettet und große Teile ihrer Portfolios übernommen haben, müssen sie nun für die Rechnung aufkommen.
Die europäischen Steuerzahler hängen wegen all dieser öffentlichen Kredite, die zum Teil ohne, zum Teil mit der Zustimmung der Parlamente vergeben worden waren, bereits an der Angel. Sie sollten sich dieses Schicksals bewusst werden und ihre Verluste abschreiben, anstatt ihren Politikern zu erlauben, den eingeschlagenen Kurs immer weiter fortzusetzen und dabei immer größere Verluste anzusammeln. Das ist die einzige Möglichkeit, sich vielleicht doch noch vom Angelhaken zu befreien.
Aber man sollte nicht nur über Schuldenerlasse reden, sondern von den betroffenen Staaten selbst einen Beitrag zur Tilgung der Schulden verlangen. Eine Möglichkeit wäre es, Staatseigentum zu verkaufen. Griechenland zum Beispiel hat ohne Immobilienvermögen ein Staatsvermögen im Wert von 85 Prozent des BIP von 2010 und zusätzlich staatseigene Immobilien von geschätzten 87 Prozent bis 130 Prozent des griechischen BIP. Die griechische Regierung hat der Troika am 2. Juli 2011 versprochen, dass sie Staatsbesitz im Wert von 50 Milliarden Euro privatisieren würde. Der Privatisierungseifer hielt sich jedoch in Grenzen. Bis Ende 2014 spülte die Privatisierung nur 3,1 Milliarden Euro in die Staatskassen.
Weitere Maßnahmen, die in den Krisenländern in Betracht gezogen werden könnten, sind Vermögensabgaben oder Zwangshypotheken. In vielen der Krisenländer gibt es ein beträchtliches Privatvermögen, wie eine Studie der EZB gezeigt hat. Selbst wenn Divergenzen in der Haushaltsgröße berücksichtigt werden, sind spanische und italienische Haushalte 14 Prozent wohlhabender als deutsche, 40 Prozent wohlhabender als finnische und 42 Prozent wohlhabender als niederländische Haushalte. Das hohe Haushaltsvermögen der Italiener wurde von dem damaligen Premierminister Silvio Berlusconi lange vor der Veröffentlichung der EZB-Statistik bereits öffentlich herausgestellt. Andere Krisenländer schneiden ähnlich gut ab. Deshalb spricht vieles dafür, auch dieses Vermögen heranzuziehen, um die Schulden zurückzuzahlen. Das gilt insbesondere für diejenigen Länder, deren Staatsschuld aus der Tatsache resultiert, dass die Staatsverschuldung nur die Steuerfinanzierung substituierte, die wegen der umfangreichen Schwarzmarktaktivitäten nur in begrenztem Umfang möglich war. Im Ländervergleich ist der Anteil des Schwarzmarktes an der Wirtschaftstätigkeit stark mit der Staatsschuldenquote korreliert.
Die europäische Schuldenkrise hat viele Ursachen. Sowohl die Gläubiger als auch die Schuldner tragen Verantwortung. Es muss gelingen, die Lasten fair und gleichmäßig zu verteilen – und das am besten so schnell wie möglich. Schnell zu sein, bringt mindestens zwei Vorteile. Der erste ist, dass das Vertrauen der Märkte dann rasch wiederhergestellt werden kann und die Periode der Ungewissheit, die die Wirtschaftsabläufe gegenwärtig paralysiert, beendet wird. Der zweite Vorteil besteht darin, dass die Kosten für die Steuerzahler begrenzt werden können. Das Politikergerede von der Zeit, die man mit den Rettungsschirmen angeblich gewönne, ist ein ärgerlicher Euphemismus angesichts der Tatsache, dass die Steuerzahler mit fortschreitender Zeit immer stärker in die ganze Sache hineingezogen werden und immer stärker zur Kasse gebeten werden.
Nur wenn der Schuldenschnitt schnell kommt, kann man die Privatanleger noch erwischen und ihnen klarmachen, dass auch sie die Verluste aus ihren eigenen verfehlten Investitionen zu tragen haben.